Andrea Hanna Hünniger stellt in ihrem Buch > Das Paradies. Meine Jugend nach der Mauer ihre Erinnerungen an die allerletzten DDR-Jahre und die ersten Jahre der deutschen Einheit vor. Der Platz wird gesperrt, der neue Supermarkt wächst aus dem Boden. Sie wohnt mit ihrer Familie weiterhin im Plattenbau und wundert sich mit welcher Geschwindigkeit, die Bewohner des Viertels sich all der Gegenstände erledigten, die die DDR symbolisierten. Manche verkrafteten die Veränderung nicht. Florian legte sich auf die Gleise und wartete auf den ICE nach München.
Andrea Hanna Hünniger kann genau beobachten und erinnert sich, wie ihre Eltern sich langsam mehr oder weniger mit der neuen Situation arrangieren und sich nur schwer an die Veränderungen gewöhnen können. Sie kommt in die zweite Klasse, während die Mutter eine Fortbildung macht: Excel und Word.
Jubel nach der Verkündung der Einheit? „Das Einzige, was ich mit Sicherheit sagen kann, ist das die zeit nach dem Fall der Mauer eine Erfahrung des Trauer und des Schweigens war.“ (S. 61) und „Die Einheit war für uns lange ein Raubzug, ein Kahlschlag, eine Zerstörung, eine Brandrodung.“ (S.66) Mit der Einheit kamen auch Drogen in der Schule an. Hünnigers Buch ist ein Protokoll der Ereignisse, die die Kinder ihrer Generation völlig unvorbereitet traf. Die gewohnten staatlichen Autoritäten verschwanden sang- und klanglos oder mussten sich über Nacht an die neuen Verhältnisse anpassen: „Aber jetzt muss man sich daran gewöhnen, dass ihr Land eine Erfindung war, vom Namen des Landes angefangen bis zu den Wahlergebnissen.“ (S. 79) Hünniger ist sich sicher, die Wende wurde nicht von ihrer Elterngeneration vollzogen, sondern von den altern Kadern der vorhergehenden Generation. Ihre Eltern kannten nur die DDR und ihnen war der fest Glaube an den Sozialismus als die bessere Zukunft eingeimpft worden. Die hatten sich nicht vorstellen, in welchem Ausmaß und mit welchen Methoden die Stasi das Land tatsächlich im Griff hatte.
Hünniger, 1984 in Weimar geboren, hat den Prozess der Einheit, die plötzliche Auflösung, den Absturz der DDR und die Gewöhnung an die ersehnte Freiheit mit den Beobachtungen aus dem Alltag mit ihren Erinnerungen sehr beeindruckend beschrieben. In der DDR gab es keine Zukunftsangst (S. 199) Die neu gewonnene Freiheit konnte aber Angst machen und die erste Reise nach Frankreich war geprägt von Stress und Hektik.
So eine richtige Freude über die Einheit mag bei Hünniger zunächst nicht aufkommen. Sie betont selber, dass ihr die Erinnerung und damit der Vergleich und damit zu den Jahren der DDR fehlt. Es geht ihr um das Aufwachsen in einer Familie, in der die Eltern sich erst langsam an die neuen Gegebenheiten gewöhnen müssen. Nach dem „Herumsitzen“ in der Schule kommt die Freiheit als „Rauschzustand“ mit dem Abizeugnis. David richtet erstmal einen Laden für Pilze ein und kommt prompt mit der Justiz in Konflikt.
Sämtliche Orientierungs- und Haltepunkte und die DDR selber verschwanden mit dem Einheitstag. Die sozialistische Hoffnung erwies sich als substanzlos. Die Hälfte des Personals, die uns erzogen haben, schreibt Hünniger war ständig in psychologischer Behandlung. Hünnigers Buch ist auch zumindest indirekt aber umso deutlicher eine Anklage des SED-Regimes, das seine Bürger durch Bevormundung, Freiheitsentzug, Überwachung und Bedrohungen jeder Art bis zum Einheitstag schikaniert hat.
Andrea Hanna Hünniger
> Das Paradies. Meine Jugend nach der Mauer
1. Aufl. 2011, 219 Seiten, gebunden
ISBN: 978-3-608-50305-0