Lesebericht: Antonio Scurati,
M. Der Sohn des Jahrhunderts

Antonio Scurati hat mit > M. Der Sohn des Jahrhunderts ein Lehrbuch verfasst. Es geht darum, wie man den Anfängen wehrt. Akribisch beschreibt Scurati alle Vorgänge und Ereignisse, mit denen der Faschismus sich so allmählich innerhalb von vier Jahren bis zur Machtergreifung Mussolinis durchgesetzt hat.

Stark wurde die Bewegung nur durch Gewalt. Sie agierte von Anfang durch Einschüchterung, dreiste Parolen und dem populistischen Anspruch, alleine das Volk zu vertreten, gar um eine Nation daraus zu machen. Von Anfang an regierte schon das Diktum, wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Und es gibt eine weitere Lesart für M., indem man die Aufmerksamkeit auf die Passagen richtet, die die Schwäche der Anderen offenbaren. In der Tat, ihre Schwäche, ihr Versagen, ihre Angst und ihr fehlender Mut, den Mordbanden der Faschisten entgegenzutreten, war die Basis für den Erfolg Mussolinis. Es gab genügend Momente, wo ein funktionierender Rechtsstaat ihm und seinen Helfershelfern ihm in den Arm hätten fallen können. Geschickt stachelte er den Hass unter den Parteien an, um so noch besser auf ihre Verderbtheit setzen zu können. Einen Brand entzünden, um ihn dann zum Wohl des Volkes sogar mit Gewalt zu löschen und die Rechtfertigung für die Gewalt gleich mitzuliefern. Hass, Rassismus, jegliche verbale Verfolgung sind auch Gewalttaten gegen Andersdenkende Das Muster ist immer das gleiche.

1919 kam es zur Gründung der Kampfbünde während die Linken, Sozialisten und dann die Kommunisten auf die Revolution hoffen. Schon vor dem Krieg wogt die Auseinandersetzung zwischen den Interventionisten und den Pazifisten hin und her.  Benito Mussolini war zuerst Herausgeber des Avanti!, das Zentralorgan der Sozialisten, bis er sich vehement für den Kriegseintritt stark machte und Il Popolo d’Italia gründete. Schon 1919 warnt der Generalinspekteur für öffentliche Sicherheit Giovanni Gasti, Mussolini könne ein „Führer mit gefürchteter Faust“ werden. Mussolini und seine Unterstützer nutzen das Kriegsende, um „vier Millionen siegreicher Kämpfer“ (S. 43) zu ihren Gefolgsleuten zu machen. Intellektuelle wie der Dichter Gabriele d’Annunzio (1863-1938)  dem es später gelingt, Fiume (S. 93) für Italien zu besetzen, eilen ihnen zu Hilfe. Gänzlich unbekannt hat sich Mussolini mit seiner scharfen Kritik an den „alten distinguierten Parteigranden vom reformistischen Flügel“ (S. 56) einen Namen gemacht. Man kennt das, wie Hitler die 30 Parteien aus Deutschland hinausfegen wollte und wie die AfD aufgrund ihrer Ideologie heute die „Altparteien“ attackiert. Am 22. Mai 1919 redet Mussolini im Theater von Fiume und setzt dem Faschismus ein Ziel: „Zunächst muss sich Italien im Inneren selbst erobern.“ (S.55)

Am 6. Juni 1919 erscheint das Programm der Kampfbünde im Il Popolo d’Italia, das sich (noch) an dem der Sozialisten orientiert, um sie – ohne die Revolution – auf ihre Seite zu ziehen. Aber ein Keil schiebt sich zwischen sie. Die Streiks der Sozialisten werden von den Faschisten nicht mitgetragen, und der Staat bedient sich ihrer Unterstützung im Kampf gegen die Streikenden.  Die Kampfbünde werden so salonfähig gemacht – aber nicht im Sinne des Staates. Präzise Archivarbeit ist hier die Grundlage auf der Scurati die zunehmende Konfrontation zwischen den Sozialisten und den Faschisten analysiert. „Geduld“ (S. 99) schärft Mussolini seinen Anhängern ein und hat schon den Marsch auf Rom im Sinn.

Im Teatro Olimpia in Florenz hat Mussolini am 10. Oktober 1919 wieder einen Auftritt und er bezeichnet die Faschisten als „antidoktinäre, tatendurstige Problemlöser“, außer der „Tat“, sprich Gewalt, hat ihre Doktrin herzlich wenig zu bieten. Einen Monat später in Mailand will er wieder für alle sprechen, die den „Zusammenbruch der Vergangenheit“ fordern. Keine Gewalt, aber sich zur Wehr setzen, wenn man angegriffen wird. In Mailand kommt es zu einem Wahldebakel: kein Sitz für die Faschisten aber 156 Abgeordnete für die Sozialisten. Il Popolo d’Italia wird durchsucht, Waffen werden gefunden und Mussolini verbringt 24 Stunden im San-Vittore-Gefängnis.

Das prekäre Taktieren der Faschisten wird ständig von Gewaltexzessen begleitet. Wieder beginnt eine Streikwelle. Im Mai 1920 findet der zweite Nationalkongress der Kampfbünde statt. Mit einer bemerkenswerten Detailkenntnis spürt Scurati der Taktik Mussolinis nach: Das Schiff des Bürgertums nicht versenken, sondern den Maschinenraum entern, vgl. S. 208. Mit Nachdruck wendet er sich gegen die Streiks, die scheitern müssen. Erleichtert nehmen die Machthaber in Rom zur Kenntnis, dass die Fasci sich mit allen Mitteln gegen einen von den Bolschewiki initiierten Niedergang Italiens wehren würden, vgl. S. 249. Ihre Taktik geht auf, der Zuspruch wächst ständig. Im Dezember 1920 gibt es in Italien schon 88 Ortsgruppen mit 20.000 Mitgliedern. Rote Fahnen brennen und die Mitgliederzahlen der Fasci steigen. Der Hass wird aufgebauscht und den Kleinbürgern eingeredet, die gleich ihre Mitgliedskarten abholen. Gewalt muss „eine ‚Richtung'“ bekommen… „Sie ist eine chirurgische Notwendigkeit,“ erklärt Mussolini am 25. Februar 1921 in Il Popolo dItalia. (S. 334)

Die Nationalfaschistische Partei wird in Rom Anfang November 1921 anlässlich des Nationalkongresses der Kampfbünde gegründet. Mussolinis Erklärung ist einfach gestrickt, so interpretiert ihn Scurati, der Faschismus müsse entpersönlicht, die Verantwortung von den Schultern des Einzelnen auf die Massen übertragen werden. (S.425) Die Richtung ist eindeutig: „Der Faschismus ist die Synthese von allem,“ zitiert ihn Scurati. Und Mussolini gibt sich als Dolmetscher der Masse und hat die „Gesundheit der Rasse“ im Sinn. (S. 429)

Nach dem Marsch auf Rom wird der 39-jährige Mussolini von König Viktor Emanuel III. im Oktober 1922 zum Ministerpräsident einer Mitte-Rechts-Koalition ernannt. Giacomo Matteotti, der Führer der Sozialisten und seit 1919 im Parlament wird bis zu seiner Ermordung im Juni 1924 zu einem seiner erbittertsten Gegner, der sich zunächst mit Nachdruck gegen die von Mussolini betriebenen Wahlrechtsreform zur Wehr setzt: S. 232-435.

Frank Dikötter
> Diktator werden
Populismus, Personenkult und die Wege zur Macht
Aus dem Englischen von Heike Schlatterer und Henning Dedekind (Orig.: How to be a Dictator)
1. Aufl. 2020, 368 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-608-98189-6

Scurati gelingt Geschichtsschreibung mit einem Höchstgrad an Spannung. Er geht allen Anfeindungen nach, denen sich Mussolini und die faschistische Bewegung ausgesetzt sieht und deckt so die Machenschaften, die immer unverhohlener von grausamen Gewaltakten unterstützt werden, auf. Im Januar 1922 rechtfertigt Mussolini in einem Gespräch in Cannes den Bürgerkrieg, die Rettung der Nation ging nur durch die Niederringung des Bolschewismus. (S. 446) Für Mussolini gibt es keinen Zweifel, die Faschisten geben sich als Repräsentanten einer „gesunden männlichen, starken Nation“ (S.484) ,, die liberale Demokratie ist schon tot: Mussolinis Taktik ist immer dieselbe, dosieren, verdünnen und verlängern, um dann mit Überlegenheit zu verhandeln.“ (S. 244)

Aufgrund der Mordtaten, die in der Entführung und Ermordung des Sozialisten Giovanni Matteotti im Juni 1924 nach seiner Rede am 30. Mai 1924, in der er Mussolini äußerst scharf angegriffen hatte, gipfelten, geriet die Regierung Mussolinis in sehr große Bedrängnis, zu der noch innere Streitereien in der faschistischen Partei kamen, in der viel sich zurückgesetzt und nicht genügend abgefunden betrachteten. Es wäre der günstige Zeitpunkt für einen Zusammenschluss der Linken gewesen, die ihn jedoch nicht zustandebrachten: Eine versäumte Chance im Kampf gegen den Faschismus. (S. 716)

Matteotti wusste zu genau, „jeder Erfolg treibt ihn (i.e. Mussolini W.) nur zu weiterer Willkür und weiterem Machtmissbrauch“ (S. 716). Und die Opposition hätte es in geeinter Form nicht so schwer gehabt. Vor den Wahlen schien Mussolini wie von Panik gepackt, was wäre, wenn die Wähler wegblieben? Irgendwie behält er einen klaren Kopf und sagt seinem Vertrauten Rossi „Das ist das letzte Mal, dass gewählt wurde, das nächste Mal wähle ich für mich“ (S. 72) und drückt damit alle Anmaßungen des Faschismus in einem Satz aus.

Die Opposition ist noch nicht mundtot und versucht den Duce vor sich herzutreiben: „Es ist die Aufgabe der Opposition, den Kampf zu verschärfen, auf ihre Unnachgiebigkeit zu beharren, das Regime ohne Unterlass herauszufordern…“ schreibt Piero Gobetti im Artikel „Nach den Wahlen“ in La Rivoluzione Lierale, 15 April 1924.

Scurati ist ein historisches Meisterwerk gelungen. Mussolini war keinesfalls der starke Mann, der einen siegreichen Marsch auf Rom vollführte. Seine Kampfbünde waren alles andere als geeint. Die unterschiedlichen Strömungen fing Mussolini mit der Gründung der Partei ein, wobei er die Verselbständigung der Gewaltexzesse nicht in den Griff bekam. Ihm gelang deren Bändigung nur durch seine Exzesse in politischer Hinsicht, die das Land in eine Diktatur führten.

So wie in Scuratis Darstellung des Aufstiegs des Faschismus nacheinander über viele Ereignisse berichtet wird oder Aussagen der Beteiligten zitiert werden, die alle nacheinander mehr oder weniger große Mosaiksteinchen zur Definition, was denn die faschistische Bewegung sei, vorlegt werden, die der Leser leicht zu einem verständlichen Bild zusammenfügen kann, so erscheinen im letzten Drittel des ersten Bandes wiederum viele Ereignisse und Stellungnahmen, die nun ab als Gegenreaktion zu werten sind. Das Scheitern der Opposition, ihre fehlende Einigung und die verpassten Chancen, Mussolini zustürzen, bestimmten seinen Erfolg und den seiner Bewegung.

840 Seiten, die ein Kompendium der schrittweisen Erfolge de Faschisten auf dem Weg an die Macht vorlegen. 840 Seiten, die zeigen, wie es einer populistischen Bewegung gelingt, Hass und pysische Gewalt zu ihren Gunsten zu kanalisieren, sie anzustacheln, um sich dann die unschuldigen Ordnungshüter zu geben. Zugleich zeigt Scurati zumindest implizit auch die Unterschiede zum Nationalsozialismus auf. Gewalt gegen Andersdenkende, Hass gegen die Parteien und überbordender P0pulismus war ihnen gemeinsam. Zumindest im Rahmen seiner Machtergreifung war der italienische Faschismus keinesfalls so rassistisch und vom Rassenwahn geblendet wie die Nazischergen. Und Mussolini wurde am 25. Juli 1943 vom Viktor Emanuel III. zugunsten von Pietro Badoglio entlassen.

Ausgezeichnet mit dem Premio Strega:

Antonio Scurati
> M. Der Sohn des Jahrhunderts
Roman
Aus dem Italienischen von Verena von Koskull
(Orig.: M. Il figlio del secolo, Bompiani)
2. Druckaufl. 2020, 830 Seiten, gebunden, Lesebändchen
ISBN: 978-3-608-98567-2