Eine echte Mammutaufgabe hat sich die englische Historikerin Bettany Hughes mit Istanbul vorgenommen: Nicht weniger als zweieinhalb Jahrtausende währende Stadtgeschichte werden auf knapp 1.000 Seiten behandelt, von den ersten Anzeichen einer Siedlung in der Yarimburgaz-Höhle, über die wechselvolle Geschichte von Eroberungen, Aufstieg und Fall von Byzanz und Konstantinopel bis zu der rücksichtslosen Inbesitznahme Istanbuls durch europäische Fremdmächte im 20. Jahrhundert.
Hughes spiegelt in diesem Buch die Biographie einer Stadt, die sowohl für den Exotismus aus 1001 Nacht als auch für starre Machtstrukturen und das Überleben des eigenen Mythos steht. Dabei werden vereinzelt Schlaglichter auf historische Ereignisse, Personen oder Gruppen gesetzt und so die überbordende Vielfalt an Ereignissen und markanten Punkten in der Geschichte pointiert hervorgehoben. So wird beispielsweise vom Traum des Stammesgründers Osman erzählt, der darin aus seinem Nabel einen Baum hervorwachsen sah, dessen Blätter prophetisch in Richtung Konstantinopel zeigten. Aus diesem Ereignis leitete Osman seinen Herrschaftsanspruch über die Stadt und die Region ab, was ihm in der Folge tatsächlich die Regentschaft über „die Hälfte der damals bekannten Welt“ (S. 468) eintrug.
Der Leser erfährt auch, wie machtvoll Eunuchen am Hof des Sultans sein konnten, welchen Stellenwert der Gartenbau in der osmanischen Kultur und Stadtplanung besaß oder was es mit den sagenumwobenen Harems auf sich hatte. Daneben führt Hughes den Blick immer wieder auf gesamteuropäische Zusammenhänge, etwa wenn von den Machtansprüchen Russlands auf den Bosporus die Rede ist, umgekehrt die Expansion des osmanischen Reiches bis nach Wien thematisiert wird oder, noch weiter zurück, die Zeit der Kreuzzüge und der Glaubenskonflikte in Früh- und Hochmittelalter im Fokus steht.
Die Kapitel sind in Zeitabschnitte eingeteilt, die in christlicher und islamischer Zeitrechnung aufgeführt werden. Mit der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen im Jahr 1453 vermischten sich die Kultur- und Herrschaftskreise des Christentums und Islams und wurde die alte Weltordnung, in der Rom und Konstantinopel bislang als Fixpunkte betrachtet wurden, vollends zerstört:
„Die Menschen in Rom schrien auf vor Entsetzen und schlugen sich an die Brust, als sie hörten, dass Konstantinopel – das Kind ihrer eigenen Stadt – gefallen war.“ (S. 485)
Istanbul als Hauptstadt Ostroms, als Mittelpunkt des osmanischen Reiches und als Scharnier der westlichen zur östlichen Welt hat in den Jahrtausenden seiner Existenz die Begehrlichkeiten der Mächte geweckt und war in einer Vielzahl von Auseinandersetzungen Schauplatz oder Ausgangspunkt. Dennoch haftet dieser Metropole das Unnahbare, das Fremde, das Andere an, das den Leser einerseits in seinen Bann zieht, andererseits aber vielleicht auch die Auseinandersetzung mit sich selbst fördert und fordert. Hughes‘ Fazit über Istanbul ist dagegen klar:
„Istanbul kenne heißt wissen, was es bedeutet, Kosmopolit zu sein. Diese Stadt erinnert uns daran, dass wir tatsächlich Weltbürger sind.“ (S. 732)
Hughes‘ Erzählstil ist geprägt von der Nähe zum Leser, vom Wunsch, nicht eine Folge von Ereignissen aufzuzählen, sondern die enorme Komplexität dieser Stadt, die einst Hauptstadt eines Weltreiches war, verständlich zu machen. Mit einer großen Sorgfalt und Hingabe bringt die Autorin dieses Vorhaben zustande und lässt dennoch Raum für eigene Ansichten, Einsichten und Fragen. Istanbul ist ein Werk, das sich als Ganzes oder in Teilen lesen lässt, quasi ein Handbuch für jeden Interessierten, der sich mit der Historie dieses Ortes auseinandersetzen will. Angereichert mit umfangreichem Kartenmaterial, einem Namens- und Ortsregister sowie einer großen Bibliographie bietet das Buch einen einen ersten wichtigen Ausgangspunkt für weitergehende individuelle Recherchen aller Art.
Bettany Hughes
> Istanbul
Die Biographie einer Weltstadt
Aus dem Englischen von Susanne Held
(Orig.: Istanbul: A Tale of Three Cities)
2. Druckaufl. 2018, 940 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, 92 Abbildungen und Karten, farbiger Tafelteil, Lesebändchen, Goldprägung
ISBN: 978-3-608-96286-4