Lesebericht: David Armitage, Bürgerkrieg. vom Wesen innerstaatlicher Konflikte

David Armitage, Professor für Geschichte an der Harvard University in Cambridge, Massachusetts, hat ein bemerkenswertes Buch geschrieben: Civil Wars. A History of Ideas, übersetzt von Sebastian Vogel. Der deutsche Titel lautet > Bürgerkrieg. vom Wesen innerstaatlicher Konflikte.  Vielleicht nur ein Detail, aber der Originaltitel steht im Plural und verweist auf die Vielzahl der Bürgerkriege unterschiedlichster Formen, wodurch auch die Vielfalt der Definitionen, was den Bürgerkrieg ausmacht, angedeutet wird. Den Bürgerkrieg mit einer einfachen Definition, bei der zwei oder mehrere Gruppen innerhalb eines Staates oder auch Staatenverbund in Streit geraten und gegeneinander Krieg führen, gibt es nicht. Ursachen oder Anlässe, langfristige und unmittelbare erschweren die Definition dieser Kriegsart, die sich im Lauf der Jahrhunderte zudem noch gemäß unterschiedlichster Formen gewandelt hat. Ist es doch überhaupt nicht trivial festzustellen, dass eine Form kriegerischer Auseinandersetzung ein Krieg zwischen Staaten oder (nur) ein Bürgerkrieg ist. Wenn nämlich feststeht, es ist ein Bürgerkrieg, dann halten sich viele zurück oder greifen nur dann ein, wenn die Grenze zum Bürgerkrieg verlassen wird. Die Syrer mussten seit 2011 die leidvolle Erfahrung machen, dass die Kriegsparteien und ihre Gegner sowie ihre Unterstützer immer wieder für sich  eine Beurteilung des Krieges mehr oder weniger als Bürgerkrieg sich zu eigen machten, um ihre Ziele zu rechtfertigen. Das ist deshalb so schlimm, weil die Beurteilung, ob es sich um einen Bürgerkrieg oder nicht handelt, immer nur von den Interessen der Kriegsparteien bestimmt wurde, ob sie ihr Eingreifen rechtfertigen können. Dabei blieb ein gemeinsamer Ansatz der Staatengemeinschaft zu helfen, und das Drama des syrischen Volkes zu lindern, auf der Strecke.

> David Armitage Lloyd C. Blankfein Professor of History

David Armitage sagt Grundsätzliches zu Bürgerkriegen und legt eine Geschichte dieses Begriffs von der Antike bis heute vor. Sein Buch ist auch eine Art Lesebericht, der die Quellen und Autoren nennt, die seit der Antike Maßgebliches zur Definition des Bürgerkriegs gesagt haben. In diesem Sinne ist Armitages Werk auch beste politische Ideengeschichte, die dazu anregt weiter zu lesen. Für Studenten, die Historiker und Politologen unter ihnen ist dieses Buch eine wichtige Arbeitsgrundlage, das gilt auch für Literaturwissenschaftler, die den großen Wert der politischen Ideen als Beitrag zur Literatur bzw. umgekehrt genau kennen.

Zwei Mottos geben die Richtung vor. Victor Hugo fragt in den Elenden nach dem Bürgerkrieg und mutmaßt, es sei nicht jeder Krieg zwischen Menschen ein Bürgerkrieg, Hannah Ahrendt stellt in Über die Revolution  fest, der Brudermord, das Verbrechen stehe am Anfang aller politischen Ordnung.

Der lange Frieden in Europa seit 1945 lässt uns vergessen, dass die Zahl der kriegerischen Auseinandersetzungen rund um den Globus immer noch erschreckend hoch und dass zugleich die Zahl der Bürgerkriege in dem genannte Zeitraum eher gestiegen ist. Sie dauern viermal länger als zwischenstaatliche Konflikte. Das > Centre for the Study of Civil War at PRIO in Oslo ist sich bewusst, dass Bürgerkriege so wenig erforscht sind. (vgl. S. 15)

So grauenvoll die Geschichte der Bürgerkriege auch ist, so fruchtbar – das scheint auf den ersten Blick sehr paradox zu sein – war ihr Beitrag zugunsten des Denkens der Menschen, aus dem Demokratie, Politik, Autorität, Revolution, Völkerrecht, Weltbürgertum, Menschlichkeit und Globalisierung (vgl. S. 21) hervorgegangen sind. Von Aufständen über Unruhen zu Gewalttaten? Wann fängt ein Bürgerkrieg an? Oder bleibt es bei einer Rebellion, die nicht notwendigerweise in eine Revolution mündet, oder erst danach unter wechselnden Vorzeichen allmählich in den Bürgerkrieg übergeht? Oder steh der Bürgerkrieg oft am Anfang einer Revolution? Geht es um Ursachen für Unruhe in einem Staat oder um Auseinandersetzung zwischen dem Volk und seinen Herrschern? Die Diskussion um diese Definitionen führt den Autor dazu, seine Untersuchung eine „Geschichte in Ideen“ (S. 31) zu nennen, eine „Geschichte in Form von Ideen“. Einleuchend, n’est-ce pas?

Im ersten Abschnitt „Wege aus Rom“ werden die Bürgerkriege vom 1. Jh. v. Chr.  bis zum 5. Jh. unter dem Einfluss der Bürgerkriege in Rom analysiert. Der zweite Abschnitt untersucht die „Scheidewege in der frühen Neuzeit“. Mit der Aufklärung setzt eine immer stärkere Trennung von (fortschrittlicher) Revolution und (rückwärtsgewandtem) Bürgerkrieg ein. Die „Wege in die Gegenwart“ reichen im dritten Teil vom US-Bürgerkrieg bis heute. Im 19. Jh. beugten sich zunehmend die Juristen über die Definitionen des Bürgerkriegs, die auch heute nach wie vor noch ein großes für das humanitäre Völkerrecht sind. Das letzte Kapitel „Bürgerkrieg der Worte“ bestätigt, die komplexen Bedingungen für eine Definition des Begriffs Bürgerkrieg, die so wichtig ist, um Bedingungen zu formulieren, die auch in solchen Situationen die Wahrung der Menschenrechte ermöglichen.

Im ersten Kapitel über die Erfindung des Bürgerkriegs in der römischen Tradition wird die „Geschichte in Form von Ideen“ bestens demonstriert. Weder die römische Geschichte noch der Begriff des Bürgerkriegs treten zurück, sondern der Autor entwickelt hier in verständlicher Form wie der Bürgerkrieg immer wieder auf dem Weg über Aufstände, Konflikte und Revolten der römischen Geschichte entscheidende Wendepunkte beschert hat: „Für die Römer war Bürgerkrieg der Umsturz der in den Städten beheimateten Zivilisation.“ S. 47 Sokrates nannte den Bürgerkrieg in Platons Staat einen ‚Zwist‘ aber keine Krieg. Damit wird schon angedeutet, das es schon ein sehr deutliches Bewusstsein dafür gab, den Ereignissen einen richtigen Namen geben zu können, um mit den geeigneten Mitteln darauf zu reagieren. Die antiken Texte übten eine sehr bestimmenden Einfluss aus: Z. B. Lucan und sein Epos Der Bürgerkrieg 60-65 n. Chr. sollte einen ganz erheblichen Einfluss bekommen und Armitage zeigt in seiner Untersuchung, wie dieses Epos durch die Jahrhunderte hindurch rezipiert worden ist. Ohne jetzt alle anderen Autoren zu nennen, die der Autor aufzählt, muss doch daran erinnert werden, dass dieses Thema ohne die Literaturwissenschaft als Pate nur schwer zu vermitteln ist.

Unter den Namen, die Armitage im zweiten Kapitel nennt fällt Emer de Vattel (1714-1767) mit seinem Hauptwerk > Le droit des gens (Recht der Völker), das 1758 erschien. Wie der Titel zeigt, stützte Vattel seine Untersuchung auf das > Naturrecht.
Für Vattel war ein Krieg ein „Zustand, in dem wir unser Recht mit Gewalt verfolgen“, und verstand ihn nur als Handlungen unter Staaten, der aber nicht von Rebellen geführt werden konnte. Als er aber einräumte, dass das Möglich sei, begann die Diskussion, ob das Kriegsrecht auch auf zivile Konflikte anzuwenden sei – womit dieser Absatz des Leseberichts die gesamte Komplexität der Frage nach den Folgen und Möglichkeiten die sich aus der Definition des Bürgerkriegs  ergeben, hier einmal auf den Punkt gebracht ist.
Wenn wir unserer Versuchung nachgeben würden, die Argumente von Armitage hier anhand der zitierten Autoren nachzugehen und weitere Quellen im Original anzuzeigen, wäre die Dimension unseres Leseberichts schnell überschritten. Wie gesagt, die Versuchung ist groß, so ungemein anregend und lehrreich ist die Lektüre seines Buches.
Im Kapitel III „Wege in die Gegenwart“ wird u.a. > Franz Lieber (1800-1872) genannt, der 1863 eine General Orders No.100 für die Armee der Union verfasste: der Lieber Code, im Original > Instructions for the Government of Armies of the United States in the Field (Lieber Code). 24 April 1863, den Armitage ausführlich analysiert: S. 211-223. Es handelt sich um den ersten Versuch, Kriegsgesetze schriftlich niederzulegen. Für unseren Zusammenhang ist es wichtig, dass Lieber den Bürgerkrieg als eine Rebellion definierte: S. 219.

Mit der Globalisierung des Bürgerkriegs in der 2. Hälfte des 20. Jahrhundert verändern sich die Grundlagen seiner Definitionen: Jetzt wurde er „internationaler Konflikt mit nicht internationalem Charakter“  (S. 231) genannt, außerdem ist nahezu allgegenwärtig präsent: Umfangreiche organisierte Gewalt an Stelle zwischenstaatlicher Kriege (ebd.) und die Gemeinwesen, in denen er stattfand, wurden immer größer. Hinzu kommt die Tendenz große Krieg und den „globalen Krieg gegen den Terror“  als Bürgerkriege zu verstehen: S. 213.

In den Genfer Abkommen von 1949 gab es einen gemeinsamen Artikel 3 , der nun auch auf „bewaffnet Konflikte nicht internationalen Charakters“ angewendet wurde: “

„Im Falle eines bewaffneten Konflikts, der keinen internationalen Charakter aufweist und der auf dem Gebiet einer der Hohen Vertragsparteien entsteht, ist jede der am Konflikt beteiligten Parteien gehalten, wenigstens die folgenden Bestimmungen anzuwenden:
1. Personen, die nicht direkt an den Feindseligkeiten teilnehmen, einschließlich der Mitglieder der bewaffneten Streitkräfte, welche die Waffen gestreckt haben, und der Personen, die infolge Krankheit, Verwundung, Gefangennahme oder irgendeiner anderen Ursache außer Kampf gesetzt wurden, sollen unter allen Umständen mit Menschlichkeit behandelt werden, ohne jede Benachteiligung aus Gründen der Rasse, der Farbe, der Religion oder des Glaubens, des Geschlechts, der Geburt oder des Vermögens oder aus irgendeinem ähnlichen Grunde. Zu diesem Zwecke sind und bleiben in Bezug auf die oben erwähnten Personen jederzeit und jedenorts verboten:  …“

John Rawls (1921-2002) hielt 1969 eine Vorlesungsreihe „Moralische Probleme. Nationen und Kriege“, der zwei Jahre später das Buch „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ folgte, in der er eine Typologie der Kriege vorlegte: S. 245.

Die vielen Versuche, den Bürgerkrieg zu definieren, wobei die Voraussetzungen dazu stets dem historischen Wandel unterworfen sind, zeigen dass jeder Versuch die Berücksichtigung der eigenen Standortgebundenheit impliziert, In diesem Sinne gibt es keine interessenlose Definition dieses Begriffs, aber eine Analyse der Definitionsgeschichte dieser Art von Krieg ist sehr lehrreich, zumal deutlich wird, dass wenn eine Begriffsanalyse die Fakten in den Blick nimmt und die Parteilichkeit versucht zu überwinden, eine Regulierung im Sinne des Artikels 3 der Genfer Abkommen möglich wird, immer mit dem Ziel das Leiden der Betroffenen zu lindern. Im Falle Syriens ist dies der Internationalen Gemeinschaft nicht gelungen. Wir müssen viel mehr über die > Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 sprechen. Es gibt keinen Grund, dass sie in Bürgerkriegsregionen nicht gelten.

David Armitage
> Bürgerkrieg. vom Wesen innerstaatlicher Konflikte
Aus dem Englischen von Sebastian Vogel (Orig.: Civil Wars. A History in Ideas)
1. Aufl. 2018, 391 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-608-96216-1