Edgar Wolfrum hat mit seinem Buch > Der Aufsteiger. Eine Geschichte Deutschlands von 1990 bis heute verfasst. Wegen der Klarheit seiner Darstellung ist es auch vorzüglich für Schüler/innen und Student/innen geeignet, die sich mit der Geschichte Deutschlands näher befassen möchten.
Wolfrum erzählt die Geschichte Deutschlands seit 1990 von der Wendezeit, über den Beginn des Wiederzusammenwachsens der beiden deutschen Staaten, die Bedrohungen durch den globalen Terrorismus, die Weltfinanzkrise, die Flüchtlingskrise von 2015 bis zum Klimawandel, der Digitalisierung, des aufkommenden Populismus und endet mit einem zum Nachdenken anregenden Kapitel über die Erinnerungskultur, bevor noch Anmerkungen zur Gründung und Konzeption des Humboldt-Forums in Berlin folgen.
Bis 1989/90 wurde jede Darstellung der deutschen Geschichte vom Ost-West-Konfikt beherrscht. Mit der Wende sind „zwei ungleiche Brüder konfliktreich zusammengekommen“. (S. 7) Nach den Jubelfeiern zum Mauerfall und zur Deutschen Einheit trat schnell eine Ernüchterung ein, u. a. auch angesichts der zu bewältigenden wirtschaftlichen und sozialen Probleme, die anfangs möglicherweise unterschätzt wurden.
Sachliche gut belegte Informationen (Anhang mit Anmerkungen, Literaturverzeichnis und Namensregister, S. 297-368), Beurteilungen, auch zugespitzter Art, Abwägungen und – auch nachdenkliche Fragen – kennzeichnen den Stil, mit dem Wolfrum es gelingt, die Geschichte Deutschlands seit 1990 und zugleich auch eine Bewertung der wichtigsten Entwicklungen und Ereignisse sachgerecht zu vermitteln. Es sind die Zusammenhänge zwischen sozialen und wirtschaftlichen Fragen und die Einordnung der großen Krisen seit 1990, die einen verständlichen Zugang zu einem so komplexen Thema ermöglichen, denn mit der Deutschen Einheit hat sich die Stellung dieses Landes auf der Weltbühne sehr schnell und dramatisch verändert.
Mit der Frage „Zaudernder Riese und verunsicherte Demokratie?“, die Überlegungen der Einleitung auf den Punkt bringt, beginnt das erste Kapitel mit „Fragen an Deutschland“. Wenn auch die Wiedervereinigung im Prinzip so gelungen erschien, so wurde die Unterschätzung des „Aufbaus Ost“ zu einer schweren Hypothek für das neue Deutschland, ja sogar eine „Täuschung“. Die endgültige Überwindung der Diktatur in Ostdeutschland hatte die Demokratie aber doch nicht unverwundbar gemacht: „eine historische Schubumkehr, eine Art populistische Revolte“ (S. 19) zeichnete sich ab, woran auch Deutschland beteiligt war. Und schließlich wurde die neue Sicherheitslage durch den internationalen Terrorismus und Kriege (Kap. 3, S. 57-77) auf dem Balkan und das weltweite Engagement der Bundeswehr u. a. bis nach Afghanistan erheblich gestört. Der Klimawandel (s. Kap. 8. S. 171-190) wurde durch die Politik zunächst zögerlich dann im Rahmen immer neuer Gesetze angenommen. Sollte Deutschland zu einer Weltmacht wider Willen (vgl. S. 22 f.) werden? Das Land als einer der „Motoren der globalen Ökonomie“ und „tragende Säule der westlichen Welt“ (S. 23) schien noch mit einer Definition seiner (außenpolitischen) Interessen zu hadern. Erst Ereignisse wie die Finanzkrise (s. Kap. 6, S. 131-153) 2008 machten dem Land seine Stellung als „Macht der Mitte“ (S. 24) bewusst.
Für den Wechsel von der Bonner zur Berliner Republik (Kap. 2, S. 29-56) sind die Ergebnisse der Bundestagswahlen ein zuverlässiger Gradmesser, um nachzuvollziehen, wie die Stimmung sich auf die Parteienlandschaft ausgewirkt hat. Dazu kommt, dass Helmut Kohl, Gerhard Schröder und Angela Merkel deutlich voneinander unterscheidbare Akzente setzten. (Vgl. S. 50 ff.)
Das Kapitel 4 ist ein Schlüsselkapitel zum Verständnis der Probleme rund um „Deutschlands innere Einheit“. Wolfrum stellt hier Einzelheiten der wirtschaftlichen Entwicklung mit allen Höhen und Tiefen, kommt aber zu dem Schluss, dass im Endeffekt die Unterschiede heute in Westdeutschland zwischen strukturschwachen Gebieten viel größer als zwischen Ost und West seien. (Vgl. S. 109)
Die Weltfinanzkrise (Kap. 6, S. 131-151) deckte schonungslos alle Schwächen der gemeinsamen Euro-Währung auf. Das Gegensteuern war auch ein Versuch, die schwerwiegendsten Fehler der Euro-Einführung in den Griff zu bekommen. Hatte man den Euro zu schnell eingeführt? Betrachtet man den genauen Ablauf, so kommt auch eine völlig verantwortungslose Überhitzung der Aktien- und vor allem der Kreditmärkte hinzu, die zum Crash der Investment Bank Lehman Brothers am 15. September 2015 führte. Die wirtschaftlichen Folgen werden heute wohl von der Coronakrise übertroffen werden.
Die Krise, die durch den massenhaften Zustrom von Migranten und Schutzsuchenden nach Europe im August 2015 ausgelöst wurde, führte zu innenpolitischen Erschütterungen mit großer Tragweite und schließlich mehr als indirekt zum Einzug von 96 Abgeordneten der AfD in den Bundestag: Kap. 11. Die populistische Revolte, S. 233-256. Hatten Politiker die Situation unterschätzt, indem sie glaubten Deutschland sei kein Einwanderungsland? (Vgl. S. 237) Die anfängliche Willkommenskultur 2015 wich schnell den Warnungen vor einem „Kontrollverlust“ und der Kritik an Bundeskanzlerin Merkel und ihrem Satz „Wir schaffen das.“ Pegida und AfD bekamen Zulauf, wohl nicht nur aus Protest, auch wegen verändertere Einstellungen? Wolfrum stellt die Gründe für ihren Zulauf zusammen: u. A. „Fremden-Angst und ‚Wende‘-Enttäuschung“. (S. 251).
Die „Erneuerung der Erinnerungskultur“ ist auch ein Gradmesser für die politische Entwicklung und Deutschland. Hier zeigt sich, wie die gemeinsame Vergangenheit, wie die Nazidiktatur, und die Zeit der Teilung bewertet und beurteilt wird. Auch das ist ein Prozess des Zusammenwachsens, den Ines Geipel im letzten Jahr so in ihrem Buch Umkämpfte Zone. Mein Bruder, der Osten und der Hass Vgl. > Nachgefragt: Ines Geipel, Umkämpfte Zone so beeindruckend vorgestellt hat.
Das neue deutsche Selbstbewusstsein, das Ergebnis nach 30 Jahren deutscher Einheit, erläutert Wolfrum am Ende seiner Darstellung mit der Gründung und Konzeption des Humboldt-Forums in Berlin, wo Geschichte, Kultur und Forschung sich in einer einzigartigen Weise auf so geschichtsträchtigem Boden treffen werden.
Edgar Wolfrum
> Der Aufsteiger
Eine Geschichte Deutschlands von 1990 bis heute
1. Aufl. 2020, 368 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-608-98317-3
> Lesebericht: Edgar Wolfrum, Welt im Zwiespalt. Eine andere Geschichte des 20. Jahrhunderts
Für Schülerinnen und Schüler, die in den nächsten Jahren Abitur machen und dann studieren werden, ist das 20. Jahrhundert längst vorbei. Kalter Krieg? Mauerbau? Drittes Reich? Weimarer Republik? Novemberrevolution? Erster Weltkrieg? DDR? Alles längst vorbei und überhaupt mit Geschichtsdaten ist das so eine Sache. Da wird manches vergessen und Bezüge gehen verloren. Und da es bei uns mit dem Politikunterricht eher düster aussieht kommen manche Schülerinnen und Schüler manchmal mit eher dürftigen Kenntnissen des 20. Jahrhunderts aus der Schule heraus. Und dennoch ohne eine profunde Kenntnis der politischen aber auch kulturellen Geschichte des 20. Jahrhunderts sind die internationalen Beziehungen von heute kaum zu verstehen. Man sucht also Bücher über das 20. Jahrhundert, um peinliche Lücken zu füllen…