Lesebericht: Fernand Braudel, Geschichte als Schlüssel zur Welt

Fernand Braudel (1902-1985) war ein bedeutender französischer Historiker. 1946 wurde er Herausgeber der Zeitschrift Annales. 1946 legte er seine Habilitationsschrift er den Mittelmeerraum zur Zeit Philipps II. vor und erhielt 1949 den Lehrstuhl für Zivilisationsgeschichte am Collège de France, wo er 20 Jahre lang lehrte. 1962 gründete er das „Maison des sciences de l’homme“ in Paris. Am 30. Mai 1985 wurde er in die Académie Française aufgenommen.

Jetzt sind bei Klett-Cotta seine Vorlesungen in deutscher Kriegsgefangenschaft 1941 zusammen mit einem Text Wie ich Historiker wurde (1972) von Peter Schöttler unter dem Titel > Geschichte als Schlüssel zur Welt herausgegeben worden.

DIe Vorlesungen von 1941 wurden in drei Kapitel unterteilt. Zunächst wird die Ereignisgeschichte, die Rolle des Zufalls und das Verhältnis von Geschichte zu den Sozialwissenschaften behandelt. Im 2. Kapitel geht es um die Geschichtswissenschaft auf der Suche nach der Welt und im 3. Kapitel um die Geohistorie, die das Verhältnis von Gesellschaft, Raum und Zeit untersucht. Braudels Vorlesungen gehören zu den unverzichtbaren Grundlagen des Historikers. Sie haben den gleichen Rang wie Marc Blochs > Apologie der Geschichtswissenschaft oder Der Beruf des Historikers.

In der Kriegsgefangenschaft 1941 war sich Braudel über den gewaltigen Umbruch bewusst: „Damals, 1941, musste man alles erklären oder von Neuem erklären.“ (S. 17) Es ging darum, alle Positionen der Geschichtswissenschaft zu überdenken und von neuem zu rechtfertigen. Sein Forderung lautet, die Geschichte müsse auch die Sozialgeschichte berücksichtigen: „Die Geschichte von der ich spreche, ist eine neue, imperialistische und sogar revolutionäre Wissenschaft, die in der Lage ist, die Reichtümer der anderen Sozialwissenschaften in ihrer Nachbarschaft zu plündern, um sich zu erneuern und zu vollende.“ (S. 22) Ihm geht es um „eine Geschichte der Menschen aus der Perspektive ihrer kollektiven Wirklichkeit, der langsamen Entwicklung der Strukturen…“ (S. 23) Man sollte dieses Kapitel vor der Abfassung einer Seminararbeit lesen. Bevor man sich an die Literaturrecherche macht, denn hier werden grundlegende Ideen für die Konzeption einer historischen Untersuchung geliefert.

Ereignisse vollziehen sich in Strukturen und die Frage lautet: „Halten diese großen Männer tatsächlich das Schicksal der Welt und ihr eigenes in Händen?“ (S. 29) In Bezug auf die Sozialgeschichte erinnert Braudel an die umfassende Aufgabe des Historikers: „Wir wollen alle Lampen gleichzeitig anschalten.“ (S. 46) Geschichte ist mehr als nur Ereignisgeschichte: „Wir werden die Geschichte nur erklären können, indem wir die Welt erklären.“ (S. 76) Die Geohistorie bekommt im dritten Teil einen besondere Bedeutung unter dem Stichwort „‚integrale Wiederbelebung‘ der Vergangenheit“ (S. 103) Liest man diese Seiten, spürt man, wie anregend sie sind, es fallen einem sofort Assoziationen zu eigenen Themen ein, was man nicht berücksichtigt hat oder was man unterbewertet hat: „Die Geohistorie ist die Geschichte, die das Milieu dem Menschen aufzwingt…“ (S. 121) – und das sind die theoretischen Überlegungen zu dem ersten Kapitel des Buches von David Gilmour, Auf der Suche nach Italien. Eine Geschichte der Menschen, Städte und Regionen von der Antike bis zur Gegenwart (Stuttgart: Klett-Cotta 2013), das demnächst hier auf dem Blog seinen Lesebericht bekommt.

Die Menschen und die Natur, das sind die beiden Dimensionen der Geohistorie. Die Gefangenschaft hat die Neugier und die Überzeugungen Braudels nicht beeinträchtigt: „Wehe den alten Papieren, oder vielmehr: den alten Methoden, alten Ideen und Gesellschaften, alten Zivilisationen und Staaten.“ (S. 138)

Beim Lesen habe ich noch viel mehr angestrichen. Es ist nicht einfach, für die Kürze eines Blogbeitrags das Wesentliche hervorzuheben. Mit seinen Vorlesungen aus der Gefangenschaft, erinnert Braudel die Historiker an ihre Aufgaben. Zusammenhänge berücksichtigen, Strukturen erforschen und verstehen, vor allem aber eine Passion für den Beruf des Historikers zu entwickeln. Ich fand dieses Buch genauso aufregend wie das oben zitierte Buch von Marc Bloch.

Peter Schöttler hat auch den folgenden Text Wie ich Historiker wurde (1972) von Fernand Braudel übersetzt. Braudel berichtet von seinen Anfängen, seinen Archivarbeiten – die das Internet heute immer noch nicht ersetzen kann – und Braudel verstand, „dass die Geschichte und das Schicksal in sehr viel tieferen Schichten aufgezeichnet werden.“ (S. 159) Er spricht von seinen akademischen Lehrern wie Henri Berr (S. 161 ff.) und erinnert daran, wie Berr und später Lucien Febvre und Marc Bloch zu den „schwarzen Schafen“ der Historikerzunft wurden, weil ihre sozialgeschichtlichen und bahnbrechenden Forschungsansätze und -überzeugungen nur mit abfälligem Naserümpfen zur Kenntnis genommen wurden. Braudel erinnert an die Gründung der Annales 1929 und erzählt so spannende Wissenschaftsgeschichte.

Der > Bücherstapel ist der einzige Grund, warum dieser Beitrag leider so knapp und ärgerlich kurz ist. Das Vergnügen beim Lesen dieses Buches wie die große Zahl der Assoziationen zu allen möglichen Themen verlangen einen viel längeren Beitrag.


> Fernand Braudel
> Geschichte als Schlüssel zur Welt.
Vorlesungen in deutscher Kriegsgefangenschaft 1941
Aus dem Französischen von Peter Schöttler und
Jochen Grube, herausgegeben von Peter Schöttler (Original: L’Histoire, mesure du monde)
1. Aufl. 2013, 232 Seiten, Leinen mit eingelassenem Titelschild, mit sw-Abbildungen
ISBN: 978-3-608-94843-1