Lesebericht: Frédéric Delouche (Hrsg.), Das europäische Geschichtsbuch

Vor dreißig Jahren erschien dieses Buch zum ersten Mal, 10 Jahre später folgte die zweite Auflage. Nun liegt das > Das europäische Geschichtsbuch. Von den Anfängen bis ins 21. Jahrhundert von Frédéric Delouche (Hrsg.) in einem neuen Layout und um ein Kapitel von Edgar Wolfrum ergänzt vor.

Es ist das Wunder Europas, nach blutigen Jahrhunderten, nach zwei Weltkriegen, und sogar nach drei Kriegen zwischen Frankreich und Deutschland, wie diese beiden Staaten mit dazu beigetragen haben, dass sich Staaten Europas in freier Selbstbestimmung zu einer Europäischen Union zusammenschließen, die lange Zeit eine Utopie der uns vorangegangenen Generationen gewesen war. Die vier Jahre, in denen in Münster am Ende des Dreißigjährigen Krieges, einem Staatsbildungskrieg (Johannes Burkhardt), von 1644-1648 um den Westfälischen Frieden gerungen wurden, waren von der Suche nach Frieden und einer Konstruktion bestimmt, die den kommenden Frieden festigen sollte. Das gelang nur partiell. Wie schon vorher die Schweden unter König Gustav II. Adolf sich Europa bemächtigen wollten, so versuchte später Napoleon I. sein Reich nach Moskau auszudehnen: Auch Bismark führte zuerst Kriege, bis er dann eine komplizierte europäische Sicherheitsarchitektur konstruierte: > Nachgefragt: Thibaut de Champris spricht über Bismarck – 6. Mai 2015. Im  20. Jahrhundert wollte Hitler dann wieder ein Großreich errichten. Sie mussten alle scheitern, weil die Völker sich ihre Souveränität nicht nehmen ließen. Von diesen hat jeder andere Motive, die Schweden träumten von einem gotischen Imperium, (> Lesebericht: Johannes Burkhardt, Der Krieg der Kriege) Napoleon wollte die Errungenschaften der Französischen Revolution verbreiten, (> Lesebericht: Eberhard Straub, Der Wiener Kongress – 5. August 2015) das verbrecherische Regime des Nationalsozialismus musste aufgrund seiner menschenverachtenden Ideologie scheitern. Andere Kriege stürzten Europa auch in das Elend und ließen die Zivilbevölkerung immer wieder ganz besonders leiden. Wir haben hier über die schwierige Suche nach dem Frieden am Ende des zweiten Weltkriegs berichtet > Lesebericht: Keith Lowe, Der wilde Kontinent. Europa in den Jahren der Anarchie 1943–1950 – 13. Februar 2015 – aber auch über das Engagement einzelner wie Alfred Grosser oder Joseph Rovan, die die deutsch-französische Aussöhnung so maßgeblich beeinflusst haben:  > La réconciliation franco-allemande après 1945 – 14. Januar 2013.

Als 1950  Frankreich und Deutschland die > Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) gründeten und 1956 die EWG entstand, waren alle Hoffnungen auf die Festigung des Friedens gerichtet, der in der Mitte Europas bis heute gehalten hat und zur friedlichen Revolution von 1989 ganz erheblich beigetragen hat. Die EWG wirkte wie ein Magnet als künftige EU. Heute verliert sie wahrscheinlich bald ein Mitglied (> Brexit), wer weiß, vielleicht auch nicht, weil ihre Anziehungskräfte einfach zu groß geworden sind. Der Krieg im Kosovo und heute in der Ukraine sind Schatten der Europäischen Geschichte. Der Konflikt in der Ukraine muss mit einem verstärkten Dialog zwischen der EU und Moskau gelöst werden. Dazu gibt es viele Sicherheitsinstrumente, deren Potential in Richtung vertrauensbildender Maßnahmen besser und intensiver genutzt werden müssen.

Die Kritiker der EU von heute haben der Friedens-Erfolgsgeschichte, die die EU vorweisen kann und um die die Welt uns beneidet, nichts entgegenzusetzen. Die Kritiker setzen auf ihre Gegnerschaft zum Euro, der seit 20 Jahren sich zum einem positiven Antrieb der europäischen Wirtschaft entwickelt hat, auch wenn er immer noch Geburtsfehler aufweist. Die Kritiker beklagen eine bürgerferne Verwaltung der EU in Brüssel, vergessen aber, dass Europa als einziger Staatenbund in der Welt über zwei große Parlamente in Straßburg, das der EU und den Europarat – die Ukraine ist hier Mitglied -mit heute 47 Mitgliedern verfügt und folglich über viele politische Hebel verfügt, die nur besser genutzt werden müssen. Viele Annehmlichkeiten, wie der nahezu freie Grenzverkehr in der EU, werden gerne als selbstverständlich verstanden, die  Freizügigkeit der Arbeitnehmer ist eine große Wohltat für viele besonders in den Grenzregionen. Man wird Präsident Macron zustimmen, der von der Souveränität der europäischen Staaten spricht, die es zu verteidigen gilt. Allein können sie es nicht, das ist eine Sache der ganzen EU, vor allem weil jeder einzelne Staat alleine z. B. die Themen Migration, Klimaschutz, Digitalisierung und Verteidigung nicht stemmen kann.

Die europäische Geschichte von den ersten Besiedlungen, dann der griechischen und römischen Antike über das Mittelalter, auf das die Renaissance und  die Reformation folgten, über die Aufklärung bis hin zur Moderne lässt sich in einem Satz kaum mehr als nur schemenhaft andeuten. Fünfzehn Autoren aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln haben in diesem Buch an der Geschichte des Anderen, des Nachbarn, geographisch nah oder fern,  ein früherer Feind oder ein gelegentlich schwieriger Freund mitgearbeitet. Europäische Geschichte ist eine Vielfalt, die alle Bereiche von Politik, über die Kunst einschließlich der Architektur, der Ideologien genausogut we die Ideengeschichte umfasst. Kein anderer Staatenbund in der Welt verfügt über einen ähnlichen Reichtum an Sprachen, die ihrerseits die unterschiedlichsten Kulturen dokumentieren. Und jeder dieser Staaten hat einen anderen Blick auf sein Europa, auf seine Interessen und Ansprüche. Aber in dieser Hinsicht ist es die EU und auch der Europarat Institutionen, die helfen, den Nationalismus zu überwinden. „Der Nationalismus ist der Krieg“, erklärte > François Mitterand am 17. Janar 1995 im Europaparlament:

Zentrifugale Kräfte, die die Worte Mitterrands nicht verstanden haben, bedrohen heute den Zusammenhalt Europas aus egoistischen und nationalistischen Interessen heraus. Sie verkaufen ihre Vision Europas, die ihr Land bedrohen sollen, an ihre Landsleute. Abschottung, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus schwimmen wieder in einer trüben braunen Soße. Ja, wir haben in Europa lange nicht laut genug über unsere Erfolge gesprochen:> Nachgefragt: “L’Europe ne doit pas se faire dans le silence.”Entretien avec Christian Lequesne, Professeur à Sciences po à Paris – 18. Dezember 201. Präsident Macron hat das vor seinem Wahlkampf und 2017 und 2018 mit seinen > Vorschlägen zu einer Refondation nachgeholt. Deutschland als privilegierte Partner hat nur halbherzig darauf geantwortet und vielleicht ein weit geöffnetes Zeitfenster aus Unachtsamkeit und wegen der Seehofer-Krisen I/II verpasst. Das > Treffen in Meseberg war wieder ein Anfang, bis schließlich Bundeskanzlerin Angela Merkel sich dann doch deutlicher vor dem Europäischen Parlament am 13. November 2018 geäußert hat: >Bundeskanzlerin Angela Merkel spricht vor dem Europäischen Parlament in Straßburg.

Die neuen Nationalisten verkennen auch die Bedeutung der Menschenrechte, die zum Kern des Wertekanons der EU gehören: > Vor 70 Jahren: Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Nachgefragt. Colloque à Sciences-Po: La Présidente de la CNCDH Christine Lazerges répond à nos questions oder > Die Rede von Präsident Emmanuel Macron vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte – 6. November 2017. Ihre Geschichte begann in Europa mit der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte in Frankreich unter der Französischen Revolution > Heute vor 225 Jahren: Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte – 26. August 2014.

Es ist ein Wagnis, auf 500 Seiten die europäische Geschichte von den Anfängen bis heute zusammenfassen zu wollen. Dieser Reichtum passt einfach nicht zwischen zwei Buchdeckeln, auch nicht wenn es viel mehr wären. Was da hineinpasst, ist ein kleiner Ausschnitt der Tragödien, der Erfolge, des Erfindungsgeistes, der Entdeckungen, der überragenden Bedeutung der europäischen Kulturen,  deren Künstler aller Bereiche die große Zahl unserer Museen füllen, angerissene Geschichten von Kriegen und Friedensschlüssen, von wirtschaftlichen Nöten und genauso von wirtschaftlichem Aufschwung, von den sozialen Notlagen und von mutigen  Reformen. Und das letzte Kapitel dieses Buches von Edgar Wolfrum (> Lesebericht: Edgar Wolfrum, Welt im Zwiespalt. Eine andere Geschichte des 20. Jahrhunderts – 29. August 2017) berichtet von dem heute noch oder wieder prekären Prozess der europäischen Einigung. Aber eine EU,  in der  ihre Bürger/innen am 26. Mai zusammen in Freiheit und Selbstbestimmung ihre Abgeordneten für ein Parlament  wählen werden, deren Volksvertreter doch durch diese demokratische Wahl eigentlich viel mehr Befugnisse beanspruchen dürften. Von einem Staatenbund gewählt, deren Mitglieder heute in Frieden ohne jede Kriegsabsicht miteinander leben und bestimmt neidisch von den Regionen der Welt betrachtet werden, die in ständigem Krieg mit ihren Nachbarn sich befinden. Ergo, tun sich auch so weitere Verpflichtungen für die EU auf, die eigentlich kein Recht hat, sich alleine glückselig auf ihren Lorbeeren auszuruhen, denn ihre Erfolge sollten nicht egoistisch alleine von ihr genossen werden; wir wollen ja auch nicht, dass unsere Mitglieder sich wieder nationalistisch von neuem abschotten.

Genug, blättern Sie in diesem wunderbaren Buch als Vorbereitung auf die Europawahl am 26. Mai 2019.

Die Autoren:
Jacques Aldebert (Frankreich), Johan Bender (Dänemark), M. Jan Krzysztof Bielecki (Polen) und Redaktion, Jiri Gruša (Tschechien), Scipione Guarraccino (Italien), Ignace Masson (Belgien), Kenneth Milne (Irland), Foula Pispiringou (Griechenland), Juan Antonio Sanchez y García Saùco (Spanien), António Simões Rodrigues (Portugal), Ben W. M. Smulders (Niederlande), Dieter Tiemann (Deutschland), Robert Unwin (Großbritannien), Edgar Wolfrum (Deutschland)

Frédéric Delouche (Hrsg.)
> Das europäische Geschichtsbuch
Von den Anfängen bis ins 21. Jahrhundert
1. Aufl. 2018, 509 Seiten, broschierte Ausgabe, Fadenheftung, Großformat, vierfarbig, durchgängig bebildert
ISBN: 978-3-608-96257-4