> Vortrag und Diskussion: Gerhard Schweizer, Syrien verstehen und 2 x Nachgefragt… 24. Februar 2017
Das Statement von Dr. Klaus Wittmann (Brigadegeneral a.D., Historiker und Senior Fellow des > Aspen Institute Deutschland) vom 23. Februar 2016 zur aktuellen Situation in Syrien auf der Website der IPG > Fünf Jahre Bürgerkrieg in Syrien. Zwei Lageeinschätzungen aus humanitärer und politisch-militärischer Sicht ist eine gute Gelegenheit, den Lesebericht zu dem Buch von Gerhard Schweizer auf diesem Blog nach oben zu holen:
Im Februar 2011 beginnen Proteste in der syrischen Staat Deraa und greifen auf andere Landesteile über. Desertierte Soldaten gründen die „Freie syrische Armee“, die Aufstandsbewegung mündet in einen Bürgerkrieg, in dessen Verlauf bis heute die Lage immer unübersichtlicher wird. Die Terrororganisation „Islamischer Staat“ erobert im März 2013 Teile von Nordsyrien. Bis heute sind durch den Bürgerkrieg in Syriens rund 250.000 Menschen ums Leben gekommen. 11 der 22 Millionen Einwohner sind entweder im Land auf der Flucht oder haben in den angrenzenden Ländern Schutz gesucht. Seit dem Sommer 2015 hat auch ein Flüchtlingsstrom in Richtung der EU begonnen.
Wie kann man heute bei diesem Konflikt mitreden? Unsere Medien berichten über die zersplitterte Opposition, von der Härte des Regimes unter Assad, das sich mit großer Brutalität verteidigt, sie berichten von immer neuen Gräueltaten des IS und der Zivilbevölkerung Syriens, die zur Hälfte unter dramatischen Umständen auf der Flucht ist, um Schutz und Hilfe zu finden.
Wie kann die Wiederherstellung des Friedens in Syrien gelingen? Es gibt unmittelbare Gründe für den Ausbruch des Bürgerkriegs, der sich am Widerstand des Regimes gegen die Bewegung des Arabischen Frühlings entzündet hat. Er zeigt, wie die Probleme des Nahen Ostens durch die Lage in Syrien noch weiter verschärft werden. Die Befriedung Syriens ist heute die allererste Aufgabe. Zu ihr gehören umfassende Kenntnisse vor allem der Geschichte, der Politik und der Gesellschaft in Syrien. Die hat Gerhard Schweizer in seinem Buch > Syrien verstehen. Geschichte, Gesellschaft und Religion, das in der 2. Auflage bei Klett-Cotta erschienen ist, vorgelegt. Das Buch ist schon 1998 unter dem Titel „Syrien. Religion und Politik im Nahen Osten“ bei Klett-Cotta veröffentlicht worden. Nun hat er es um ein Vorwort und um ein Kapitel „Ein Umbruch mit unabsehbaren Folgen“ erweitert, das mit dem Tod von Hafi al-Assad am 10. Juni 2000 beginnt und um eine Fortführung der Chronologie bis heute ergänzt.
Ob sich jemals alle direkt oder indirekt Beteiligten am syrischen Bürgerkrieg darauf besinnen könnten, dass Syrien schon immer ein Treffpunkt östlicher und westlicher Kulturen gewesen ist? Es sind die Geschichtskenntnisse, die dazu beitragen können, die Entwicklung Syriens bis heute besser zu verstehen. Zugleich sind es aber auch die interessengebundenen Interpretationen der historischen Ereignisse, die das heutige Chaos in Syrien als so unauflösbar erscheinen lassen. Zuerst war Syrien eine Hochburg des Christentums, dann wurde es zum Kernland des Islams. Dann wurde es Schauplatz der Kreuzzüge, deren unheilvolle Nachwirkungen bis heute andauern. Syrien wurde Brennpunkt der Religionsspaltung in Sunniten und Schiiten, Muslimbrüder entstanden dort, und heute wird es zu einem Kampfgebiet zwischen Rebellen und dem Regime Assads, der nicht weichen will, und die Syrier müssen zusehen, die sich der „Islamische Staat“ weiter ausbreitet.
In Syrien entwickelte sich im 20. Jahrhundert der arabische Nationalismus und der islamische Fundamentalismus. Unsere Medien haben lange Zeit nur den Nahostkonflikt mit den Krisenherden Israel und Palästina gezeigt. Syrien hat unter der Diktatur der Assads seit längerem versucht, den Libanon für sich zu bekommen. Nun versinkt Syrien in einem Bürgerkrieg. Das Syrien der Assads versuchte sich schon lang, den Libanon als »Provinz« einzuverleiben. Der großsyrische Nationalismus wurde lange nicht erkannt und dann unterschätzt.
Die Lage ist so verworren, weil die Zahl der Beteiligten am Bürgerkrieg so unübersichtlich ist. Die Rebellen sind sich keinesfalls einig und werden nicht nur vom Regime auch von Russen bekämpft, die in den Bürgerkrieg eingegriffen haben. In wieweit sie an der Seite der Amerikaner auch den IS bekämpfen ist für die Zeitungsleser und die Fernsehzuschauer im Westen nicht eindeutig erkennbar. Nach den Attentaten vom 13. November in Paris haben auch die Franzosen ihrerseits die Angriffe auf den IS verstärkt. Deutsche Soldaten leisten in Syrien mit Tornados Luftaufklärung.
Eine Lösung des Konflikts scheint in weiter Ferne. Nach dem Tod des Rebellenführers Sahran Allusch am 25.12.2015 bei Damaskus, der zwischen den verfeindeten Extremistengruppen vermitteln wollte, ist das Abzugs-Abkommen erst einmal ausgesetzt worden. Es sah vor, dass 4000 Menschen das Palästinenserlager Jarmuk und die benachbarten Viertel Kadam und Hadschar al-Aswad verlassen. Unter ihnen vor allem Zivilisten, auch 2000 Islamisten, von denen die meisten IS-Kämpfer sein sollen.
Gerhard Schweizer,
> Syrien verstehen Geschichte, Gesellschaft und Religion
2. Aufl. 2015, 503 Seiten, broschiert
ISBN: 978-3-608-94908-7