Ines Geipel hat mit ihrem Band > Umkämpfte Zone. Mein Bruder, der Osten und der Hass ein sehr beeindruckendes Buch geschrieben: Hier geht es um aktuelle deutsche Politik und die historischen Grundlagen, auf denen sie sich bewegt. Sie berichtet, wie in der DDR Geschichtsklitterung betrieben wurde – das klingt hier so leicht gesagt – und dahinter verbergen sich schwerwiegende Familiendramen und heute sind es Umschreibungen, ganz so als ob man den Realitäten nicht direkt ins Auge schauen wolle.
Spurensuche betreibt Ines Geipel, wieso kommt es im Osten Deutschland zu so viel Hass, Rassismus und auch Fremdenfeindlichkeit? Wie steht es eigentlich um die Einheit? Von der Begeisterung nach dem Mauerfall ist nicht viel geblieben? Warum konnten Pegida und die AfD mit ihrem Fremdenhass im Osten so stark werden? Der Untertitel Mein Bruder, der Osten und der Hass gibt den Ton und den Aufbau des Buches vor. Ihr sechs Jahre jüngerer Bruder Robby, ist nach schwerer Krankheit am 6. Januar 2018 gestorben. In den Erinnerungen an ihn und ihre gemeinsamen Erlebnisse kristallisiert sich ihre ganze gemeinsame Familiengeschichte in der DDR. Dort wurde so viel verschwiegen und verboten, was konnten Kinder damals verstehen, ahnen oder erraten? „Es ist nicht so ohne, über das Gewebe zwischen Erinnern und Vergessen zu schreiben.“ Und dann folgt der Satz, der das Verhältnis zu ihrem Bruder Robby auf den Punkt bringt: „Wir waren uns in der Kindheit ein Versteck.“ (S. 96) Robby und seine Schwester stützten sich gegenseitig.
> Nachgefragt: Ines Geipel, Umkämpfte Zone. Mein Bruder, der Osten und der Hass – 1. April 2019
Ines Geipel erzählt anhand dieser Familienerinnerungen, wie beide die Diktatur und das „Angstsystem DDR“ (S. 81) überstanden haben. Im Untertitel steht auch der Osten, wir haben im Westen immer die neuen Bundesländer gesagt, das sind sie auch unerwartet lange geblieben, da von einem soziologischen Standpunkt aus, die Wiedervereinigung aufgrund der gescheiterten Aufarbeitung der Diktatur in der DDR ins Stocken gekommen ist. Wieder sind es Einzelschicksale, die mit den neuen Realitäten nicht zurecht kommen, und sich wie Michael (S. 240 f, S. 255 ff) der AfD angeschlossen haben. Die politische Verantwortungslosigkeit der SED, die sich gegen jede historische Wahrheit verteidigte und gar nicht die Ostdeutschen in die Demokratie führen wollte und konnte: „Es störte kaum, dass die Linke eine Unzahl Stasileute beherbergte, es fiel nicht wirklich auf, auf welche Weise sie bis heute ihre Opfer verhöhnt…“ (S. 257) und „Das was im Osten politisch ungeklärt geblieben ist, findet längst Unterschlupf bei der AfD,“ (S. 263) die mit allen Angstthemen „Flüchtlinge, Islam, Westhegemonie, Kriminalität, sexuelle Gewalt durch Fremde“ (S. 262) den „verkapselten Opferstatus“ im Osten perpetuiert, um aus ihm einen „politischen Machtfaktor“ (S. 263) zu machen. So kann man beobachten, wie Hass gesät wird – also seine Angriffspunkte müssen zuerst mal ausgedacht und formuliert werden müssen – der vor allem aus den Reden von Pegida und AfD stammt.
Da ist die Geschichte ihres Großvaters Otto Grunert (Jg. 1905), der 1941 den Dienst beim Reichskommissar für das Ostland antrat. Über seine Kriegserlebnisse hat er nie erzählt. Immer wieder litt er am Magen. Die Aufregung? Ende 1944 schafft er es, dort noch herauszukommen. Auf seinem Fragebogen, den er im Juli 1945 abgibt: Gewohnt von Januar 1942 bis jetzt: „Bis Mitte Oktober 1942 in Dresden Bühlau, ab da am Plauenschen Ring,“ hatte Großvater angegeben und die Vergangenheit war zumindest für ihn vorbei: „Die Leerstelle Riga.“ (S. 51).
Dann folgt die Geschichte vom Aufbau der DDR mit der Einrichtung der Diktatur. Die Erinnerung an Buchenwald und die Taten des kommunistischen Netzwerkes, ausgeblendet und uminterpretiert aus Gründen der jungen Staatsräson: „Der gordische Knoten des Nachkriegs und des Dickichts seiner unendlichen Geschichten.“ Und „Klar war, dass jeder von etwas anderem schwieg.“ (S. 63) Und die DDR zuerst über die Zensur dann über die Geschichtsklitterung bemächtigte sich des Romans Nackt unter Wölfen von Bruno Apitz, um die Ereignisse in Buchenwald zu verklären.
Geipel erklärt ausführlich das „Binnenklima des Ostens“ (S. 83) mit seiner „Angstmanie“. Die Wiedervereinigung konnte die DDR-Propdganda-Diktatur , die den Menschen keinen Freiraum ließ, keineswegs durch das Überstülpen des westdeutschen Rechts- und Parteiensystems über Nacht eliminieren. Geipel war ein Jahr alt, als die Mauer gebaut wurde: „Statt gemeinsamer sollte es nun eine geteilte Geografie geben. (S. 97) Da war auch die Geschichte von ihrem Vater, der von 1973 bis 1984 unter acht verschiedenen Identitäten für die Stasi im Westen spioniert hat: “ …vor allem war er darauf aus, andere Menschen zu vernichten“. (S. 113)
1974 kam Ines Geipel in das Internat der Spezialschule Wickersdorf und begann zu Laufen, ein Zustand, der ihr gehörte. War das ihre Art dem Strudel des Nicht-Erinnerns oder des Vergessens in der DDR zu entkommen? Wenn Sie wieder in Jena war, besuchte Robby sie: „Mein Bruder, ich und unsere Suche nach uns.“ (S. 154) 1988 ging sie in den Westen und kam nach Darmstadt. Nach 1989 besuchte Robby sie dort und sie machten zusammen eine Reise nach Südfrankreich. Die beiden Erzählstränge in diesem Buch, das Verhältnis zu ihrem Bruder Robby, ihre gemeinsamen Erinnerungen, seine Begabung als Fotograf, seine Kisten mit den Bilden und seine Tagebücher und dann alles, was in der DDR verschwiegen, vergessen und übergangen wurde. Das Scheingebäude DDR war in sich zusammengefallen und hinterließ einen Unterschungsbericht 36 Bände mit 31.000 Druckseiten und damit war das Unternehmen DDR offiziell beendet, zurück blieben die Menschen, die erstmal jede Orientierung verloren hatten.Die Unrechtbilanz der DDR führte zu 40 Freiheitsstrafen ohne Bewährung. ( vgl. S. 200)
Man kann keinen Staat wie die DDR bauen, wenn das Verhältnis zur Geschichte nicht geklärt ist. In diesem Sinne ist das Buch von Ines Geipel eine sehr wichtiges und spannendes Lehrbuch zur jüngsten deutschen Geschichte. Ihre Bilanz fällt sehr ernüchternd aus. Alle Fehler, die im Zusammenhang mit dem Osten gemacht wurden, sammeln sich beleuchtet wie durch ein Brennglas im Hass von Pegida, der AfD und des jahrelang unentdeckten NSU. Man hat in Autobahnen und Glasfaser investiert, aber die Parteien haben die Bürger nicht wirklich erreicht. Geipel nennt das Gebilde das nach 1990 im Osten entstand „eine bizarre Sonderdemokratie“ (S. 218) Es ist tatsächlich das Verhältnis zur Geschichte, im Westen ist der Holocaust Dauerthema, im Osten gab es das mit Geschichtsklitterung um Buchenwald reingewaschene Gewissen,das auf einmal in eine ganz andere Wirklichkeit fiel: vgl. S. 228 f.
„Lage und Stimmung finden nicht zusammen,“ (S. 237) lautet Geipels pessimistisches Urteil: Nach vorn wurde saniert und saniert, inwendig bleibt das ganze ohne Boden.“ (S. 239)
Ines Geipel
Umkämpfte Zone
Mein Bruder, der Osten und der Hass
1. Aufl. 2019, 277 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-608-96372-4