Joel Whitebooks Biographie > Freud. Sein Leben und Denken ist auch eine Wissenschaftsgeschichte, in der Whitebook zuerst ausführlich die Umstände der Herkunft Freuds aus einem jüdischen-aufgeklärten Elternhaus darstellt. Danach berichtet er über die einzelnen Stationen seines Studiums, wie er Arzt wurde, mit welchen Menschen er sich anfreundete und wie diese seinem Leben so entscheidende Wenden verpasst haben. Die Entstehung seines umfangreichen Werkes ist im Falle von Freud kaum von seiner Biographie zu trennen, wobei aber auch hier gilt, dass weniger diese sein Werk erhellt, sondern seine Schriften dazu beitragen, bestimmte Abschnitte seines Lebens besser zu verstehen.
> Nachgefragt: Joel Whitebook, Freud. Sein Leben und Denken – 25. April 2020.
Whitebook, hat, wie angedeutet, nicht nur eine bloße Biographie des Begründers der Psychoanalyse verfasst: An Intellectual Biography, wie der Untertitel der englischen Originalausgabe lautet. Alle großen Abschnitte seines Lebens sind für Whitebook Anlässe, das ganze Arsenal der Psychoanalyse einzusetzen, um Freud selber zu verstehen: seine Motivation, seine Beweggründe wie seine Entscheidungen. Die Einleitung (S. 13-28) gibt den Ton an. Die Weiterentwicklungen der psychoanalytischen Theorie mit der feministischen Kritik an der Psychoanalyse, die Säuglingsforschung und die Bindungstheorie sowie neue Erfahrungen mit dem „unklassischen Patienten“ haben das Instrumentarium der Psychoanalyse erheblich erweitert und auch ein neues Licht auf das Werk von Freud geworfen.
Bisher war die Mutter merkwürdig abwesend, wofür Whitebook eine ganze Reihe von Deutungen und Erklärungen vorlegt. Konzepte wie die Endlichkeit und die Omipotenz im Werk Freuds (vgl. S. 18) seien bisher viel zu wenig beachtet worden sei. Whitebook: „Und entgegen der gängigen Karikatur Freuds als eines dogmatischen Positivisten werde ich zeigen, dass Wissenschaft im präskriptiven Sinn für ihn eben nicht in der Gewissheit des „Absoluten Wissen“ besteht, sondern dessen methodologischer Gegenspieler ist.“ S. 18.
Der Theoretische Exkurs, Kap 5. S-167-178, enthält wichtige Anmerkungen, mit denen der Leser die Entwicklung Freuds besser verstehen kann. Whitebook erläutert u.a. Freuds Theorie der Notwendigkeit, Spannungen im psychischen Apparat zu reduzieren, so wie er dies 1895 im Entwurf einer Psychologie dargelegt hat.
Die „fehlende Mutter“ erhält in der Einleitung einen eigenen Abschnitt und ist eine Gelegenheit, Begriffe wie Dissoziation, Verdrängung und Abspaltung anklingen zu lassen. Ereignisse in Freiberg wie das Verschwinden der Kinderfrau, das schwierige Verhältnis zu seiner Mutter Amalie, der Tod des kleinen Bruders Julius und die Eheprobleme der Eltern müssen den kleinen Sigmund erheblich belastet haben. Alles Traumata, deren Gewicht gemäß Whitebook richtig bewertet werden muss: S. 60-65. Whitebook nimmt sich vor, den Gesamtumfang der Informationen, die die Kindheit Freuds betreffen, das bisher aus „Freuds offizieller Lehre'“ (S. 23) ausgeschlossen war, zu berücksichtigen.
Zur Methode der Biographie macht der Autor einige wichtige Anmerkungen ausgehend von Freuds Satz „[…] die biographische Wahrheit ist nicht zu haben.“ (S. 25) In der Tat, wie kann man eine „Idealisierungsarbeit“ vermeiden? Im Falle da Vincis und Freud gibt es einen Satz, der unter vielen anderen Anmerkungen, das Konzept Freuds erläutert. U. a.: „Wenn ein biographischer Versuch wirklich zum Verständnis des Seelenlebens seines Heldens durchdringen will, darf er nicht, wie dies in den meisten Biographien aus Diskretion oder aus Prüderie geschieht, die sexuelle Betätigung, die geschlechtliche Eigenart des Untersuchten mit Stillschweigen übergehen.“ (S. Freud, Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci, 1910, S. 135, zitiert von Whitebook S. 27) Der psychoanalytische Ansatz von Freud scheint das aus Therapiegründen vorauszusetzen…, zumal viele andere Lebenssituationen Freuds auch in einen direkten Zusammenhang mit seinen Schriften gebracht Auch Whitebook beugt sich über Intimitäten von Freud: „Ich werde nicht versuchen, Freud zu ‚outen‘, halte es aber für notwendig, seine ‚geschlechtliche Eigenart‘ besser zu verstehen.“ (S. 27).
Whitebooks großes zweites Thema ist der Bruch mit der Tradition und die Entwicklung Freuds zu einem Vertreter der Aufklärung (S. 22), ein Vorgang, den schon sein Vater Jacob mit dem Erwerb der Israelitschen Bibel von Ludwig Philippson angelegt hatte:
Auf der Website der Bayrischen Staatsbibliothek:
> Die Israelitische Bibel : enthaltend: Den heiligen Urtext, die deutsche Übertragung, die allgemeine, ausführliche Erläuterung mit mehr als 500 englischen Holzschnitten
Autor / Hrsg.: Philippson, Ludwig ; Philippson, Ludwig
Verlagsort: Leipzig | Erscheinungsjahr: 1859 | Verlag: Baumgärtner
Signatur: 4 B.orient. 150 x-4
Reihe: Die Israelitische Bibel : enthaltend: Den heiligen Urtext, die deutsche Übertragung, die allgemeine, ausführliche Erläuterung mit mehr als 500 englischen Holzschnitten
> Die israelitische Bibel: enthaltend: Den heiligen Urtext, die deutsche Ubertragung, die allgemeine ausführliche Erläuterung mit mehr als 500 englischer Holzschnitten
hrsg. von Ludwig Philippson, Leipzig : Baumgartner, 1844-54.
Hatghi Trust – Digital Library > https://catalog.hathitrust.org/Record/100244780
Unter der Überschrift „Der Bruch mit der Tradition“ (S. 29-36) untersucht Whitebook eingehend die religiöse Prägung Freuds. Sie gehört auch zu Freuds Bildung (Kap. 2., S. 68-94), ohne die seine Wissenschaft als Berufung (Kap. 3., S. 95-182) kaum verstanden werden kann. Seine Berufung war die Entwicklung vom „Forscher Freud zu einem philosophischen Arzt“ (S. 95, bes. S. 109-111), bevor er sich unter dem Einfluss von Ernst Brücke neu auf die Naturwissenschaften orientierte. Es folgte ein ihn sehr prägender Aufenthalt bei Jean-Martin Charcot in Paris, der ihn von der Neurophysiologie zur Psychopathologie (S. 120) brachte.
Mit der Rückkehr nach Wien, Praxisgründung, Heirat mit Martha und Familiengründung begann ein neuer Lebensabschnitt. Noch vor der Hochzeit lernte Freud Wilhelm Fließ (S. 143, 155, 179-240), einen HNO-Arzt aus Berlin, kennen, der schnell Josef Breuer als geliebten Freund ersetzte. Mit Studien der Hypnosetechnik bei Hippolyte Bernheim in Nancy ergänzte er sein Wissen, aus dem er die Psychoanalyse entwickelte. In dieser Zeit entstand Die Traumdeutung. Auf Fließ folgte die Verbindung Freuds mit Carl Gustav Jung (1906-1913), einem Züricher Kollegen: bes. S. 264-270. Wie Fließ leistet er Freud wichtige Hilfestellungen und vermittelte ihm durch Provokationen wertvolle Inspirationen, wodurch Freuds Abhandlung Zur Einführung in den Narzissmus entstand. (S. 245)
Aber auch Jung wurde von Freud als etwaiger Nachfolger als untauglich empfunden und es kam 1913 zum Bruch zwischen beiden: S. 271-313.
Der Erste Weltkrieg war auch ein für Freud ein einschneidendes Erlebnis. Zunächst zeigte er sich zum Erstaunen seiner Biographen als österreichischen Patriot, eine Haltung „chauvinistischer Anwandlung“ (S. 323, die aber sehr bald einer depressiven Stimmung wich. (vgl. S. 239). In den Kriegsjahren entstanden einige seiner wichtigsten Schriften wie die Beiträge zur Metapsychologie. wo er die Verdrängung des Unbewussten und die Triebe erklärte. Es folgten Trauer und Melancholie, Zeitgemäßes über Krieg und Tod (1915), Vergänglichkeit (1916): S. 330-343.
Nach dem Krieg begann Freuds letzte Schaffensperiode, die von der Krebserkrankung 1923 überschattet wurde: Das Ich und das Es und Jenseits des Lustprinzips, das Whitebook als das vielleicht skandalöseste Buch in seinem Werk bezeichnet, bevor er sich versucht, es zu interpretieren: S. 362 ff. und sich nicht scheut, einzelnen Etappen von Freuds Argumentation schlicht als falsch zu bezeichnen. In solchen Passagen klingen Ergebnisse der Freud-Forschung an, die auf neue Erkenntnisse verweisen … und eine neue Lektüre der Werke Freuds anregen.
Freuds Religionskritik im Lichte seines Gesamtwerkes wird im Kapitel 12, S. 379-408 thematisiert. Whitebook knüpft wieder an den Anfang seiner Biographie und untersucht : „Freuds Auffassung der Religion gehört vielmehr zum inneren Kern seiner Theorie… Man könnte sogar behaupten, das eine Klärung dessen, was Freud unter einem ‚gottlosen Juden‘ verstand, eine der tiefen Schichten seines Projekts zutage fördert.“ (S. 379). Dieses Kapitel enthält mit dem Abschnitt „Die Wissenschaft und der Endlichkeit“ eine Form der Zusammenfassung dieses Buches mit grundsätzlichen Überlegungen, die sich aus Freuds Werk ergeben. In Die Zukunft der Illusion (1927, S.378) erinnert Freud daran, dass Wissenschaft „fallibel“ (Whitebook, S. 401) sei: „Beachten Sie die Verschiedenheit Ihres und meines Verhaltens gegen die Illusion. Sie müssen die religiöse Illusion mit allen ihren Kräften verteidigen; wenn sie entwertet wird, und sie ist wahrlich bedroht genug, dann stürzt Ihre Welt zusammen, es bleibt Ihnen nichts übrig, als an allem zu verzweifeln […]. Von dieser Leidenschaft bin ich, sind wir frei. Da wir bereit sind, auf ein gutes Stück unserer infantilen Wünsche zu verzichten, können wir es vertragen, wenn sich einige unserer Erwartungen als Illusionen herausstellen.“ (Whitebook, S. 401)
Die Biographie endet mit ausführlichen Überlegungen zum Verhältnis des späten Freuds zu seiner frühen Mutter: Kap 13, S. 409-455.
Joel Whitebook,
> Freud. Sein Leben und Denken
Aus dem Englischen von Elisabeth Vorspohl
(Freud. An intellectual biography. Cambridge University Press,Cambridge)
1. Aufl. 2018, 559 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-608-96245-1