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Lesebericht: Stuart Jeffries, Grand Hotel Abgrund. Die Frankfurter Schule und ihre Zeit

Verfasst von Heiner Wittmann
22.10.2019

Stuart Jeffries hat eine Geschichte des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, ab Ende der 50er Jahr bekannt unter dem Namen Frankfurter Schule, vorgelegt:  »Grand Hotel Abgrund. Die Frankfurter Schule und ihre Zeit«. Eine Ideengeschichte, die die Gründung des Instituts 1924, das Exil seiner Mitglieder in den USA und den Neuanfang nach der Rückkehr Horkheimers und Adornos aus dem amerikanischen Exil nach Frankfurt, darstellt. Die Frankfurter Schule übte mit der Kritischen Theorie einen erheblichen Einfluss auf die Entwicklung der 68er Bewegung aus.

Georg Lukács (1885-1971) schrieb mit Blick auf die „eklatante Verkehrung von Marx‘ Denken durch die Frankfurter Schule“ (Jeffries, S. 9) im Vorwort zur Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, Neuwied-Berlin 2/1963, S. 16 f.,  ein Großteil der deutschen Intelligenz, einschließlich Adorno, wäre in einem „Grand Hotel Abgrund“ untergebracht und sähe aus Lust – frei nach Schopenhauer – täglich in den Abgrund. Im Ziel der Kritik, die fehlende Verbindung von Theorie zur revolutionären Praxis, die Lukács u. a. den Vertretern der Frankfurter Schule vorwarf.

Lesebericht: Stuart Jeffries, Grand Hotel Abgrund. Die Frankfurter Schule und ihre Zeit

Alles begann 1923 mit der Gründung des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt. Zu ihren Mitgliedern gehörten u. a. > Max Horkheiner (1895-1973), von 1930 an 30 Jahre lang Leiter des Instituts war, Herbert Marcuse (1898-1979), Friedrich Pollock (1894-1970) und Theodor Wiesengrund Adorno (1903-1969). Für die psychoanalytischen Ansätze war Erich Fromm (1900-1980) zuständig und Henryk Grossmann (1881-1950) brachte seine ökonomischen Kenntnisse sein. In dieser „Gruppenbiographie“ (S. 18) erhält Walter Benjamin (1892-1940), die nie zum engeren Kreis der Frankfurter Schule dazu gehörte, eine besondere Stellung als ihr „wichtigste[r] intellektuelle[r] Impulsgeber“ (S. 26). Das Buch endet mit einem langen Kapitel über Jürgen Habermas (*1929).

Aber der Band von Stuart Jeffries geht weit über die Biographien der Hauptprotagonisten hinaus. Hier wird eine Ideengeschichte ersten Ranges vorgelegt. Es geht um die Interpretation  der Werke von Marx und ihre Verbindung mit den Werken von Sigmund Freud (1856-1939). Die Bezüge zwischen Marx und Freud waren ein Versuch, „um zu begreifen, wie die dialektische Bewegung der Geschichte hin zu einer sozialistischen Utopie aufgehalten werden konnte.“ (S. 19) Ganz besonders intensiv untersuchten sie „Kulturindustrie“ und damit „wie das Alltagsleben zum Schauplatz einer Revolution werden konnte.“ (S. 19 f).

Jeffries will eine Geschichte erzählen, die der Jugend dieser Denker, ihren Erfahrungen des Ersten Weltkriegs, ihre Interpretation der gescheiterten deutschen Revolution im Zusammenhang mit ihren marxistischen Ideen und dann die Entwicklung einer neomarxistischen Theorie, um dieses Scheitern zu erklären. Die Entwicklung ihres Instituts ist untrennbar mit der Geschichte ihrer Epoche verbunden: der Aufstieg Hitlers, die Machtergreifung und die Dauer des Naziregimes bis 1933, das Exil in die USA mit ihrem ungebremsten Massenkonsum, dann die Nachrichten über den Holocaust, die Rückkehr aus dem Exil nach Deutschland, (S. 18 f) und mit den Aufgaben für das neue Jahrtausend, wie „der Zusammenbuch der multikulturellen Gesellschaften im Westen verhindert“ (S. 19) werden könnte.

Walter Benjamin prägte seine Generation. Die Mitglieder der später so genannten Frankfurter Schule hatten „denselben privilegierten, säkularen jüdischen Hintergrund und lehnten sich ebenso wie er gegen den Krämergeist ihrer Väter auf.“ (S. 27) Benjamin vermittelte ihnen durch seine Kindheitserinnerungen  – „ein revolutionärer Schreibakt“ (S. 29) – seine neue Auffassung der Geschichte, die das Vertrauen in jede Art von Fortschritt aufgab. Später entwickelten die Gründungsväter die kritische Theorie, die Jeffres mit „jener Art radikalen Neu-Denkens“ kennzeichnet, das „als Herausforderung der offiziellen Version der Geschichte und des intellektuellen Strebens gemeint ist.“ (S. 32) Horkheimer entwickelte ab 1930  als „Leiter des Instituts für Sozialforschung…  es von einer orthodox-marxistischen Institution in eine interdisziplinäre, psychoanalytisch orientierte und revisionistisch-marxistische Einrichtung“  (S. 51)  weiter. Sie „verstand sich auch als Opposition zu der Angewohnheit des Kapitalismus, diejenigen, die er ausbeutet, mit Konsumgütern abzuspeisen, und uns vergessen zu lassen, dass andere Lebensentwürfe möglich sind.“ (S. 33) Die Kritische Theorie will die bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft einer ideologiekritischen Analyse unterziehen, ihre Herrschaftsmechanismen prüfen. Das 2. Kapitel „Väter und Söhne und andere Konflikte“ untersucht die so unterschiedlichen Ursprünge von ihm und seinen Kollegen. Es gibt Gemeinsamkeiten und so unterschiedliche Schicksale, gemeinsam teilten sie die Enttäuschung über das Scheitern der Revolution 1918.

Die Blüte der 20 Jahre (S. 85-152) war, wie sich immer mehr herausstellte, prekär. Die Gesellschaft um die Protagonisten des Instituts lebte in einem Wiederaufschwung des Kapitalismus, die wurde „maschinenähnlicher, funktionaler“ (S. 93). Den einen war das Institut viel zur gemäßigt, wieder andere geißelten wie Lukàcs die Verdinglichung. Die Massenproduktion und die Arbeitsteilung musste den Menschen als „produktive Wesen“ den Spaß an der Arbeit verleiden. Die Kunstformen wurden zur Befriedung der Massen  eingesetzt: (S. 104) Die Kluft zwischen „Gebrauchswert und Tauschwert“ geriet in den Blick: Henry Grossmann: Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems (1929) und der Aufsatz von Max Horkheimer: Die Ohnmacht der Arbeiterklasse, (1927). Benjamin stellte sich „die moderne Welt als eine Art Hölle“ (S. 136) vor und schrieb das so auch im Passagen-Werk. (S. 136)

1929 begannen Horkheimer und Fromm ein empirisches Projekt, um herauszufinden, wieso die Arbeiterklasse zunehmend von einer Diktatur in Bann gezogen wurde. War es ihr Wunsch beherrscht zu werden? „Nicht für die sozialistische Revolution, waren sie bereit, sondern vielmehr für das Dritte Reich“, schreibt Jeffries mit Blick auf die vorläufigen Ergebnisse der Studie. Und den Nazis war die Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagony mit ihrer Premiere am 4. März 1930 in Leipzig von Bertold Brecht und Kurt Weill ein Dorn im Auge. Die Parallelen zu Weimar waren offenkundig: Mit seiner Kritik an dieser Oper (1930) wird, so Jeffries hier erkennbar, wie Adorno das Hauptaugenmerk von der Produktion auf den Konsum verlegt: alle Waren seien durch andere ersetzbar. „Das marxsche Tauschprinzip ist zu Ende gedacht, schreibt Jeffries (S. 15). Spannend , wie der Autor immer wieder an Ereignissen und Texten Entwicklungen und Modifikationen der Kritischen Theorie aufzeigt.

Das 6. Kapitel Die Macht des negativen Denkens würde einen eigenen Lesebericht verdienen. Horkheimer hält 1930 seine Antrittsvorlesung als neuer Direktor des Frankfurter Instituts: Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben des Instituts für Sozialforschung (S. 169) verursacht neue Diskussionen und Polarisierungen mit Adorno, dem Marcuse durch seine Aufnahme in das Institut zur Seite sprang, die „Macht des negativen Denkens“ unterstützte und die „hegelsche Wendung“ des Instituts förderte: „Die Vernunft erkenne das Wesen der Dinge,“ so kennzeichnet Marcuse die Vorstellung Hegels. (S. 178)

Im Exil in den USA nannte sich das Institut International Institute of Social Research in New York, um jeden Anklang an Marx zu vermeiden. Anfang 1941 kamen Horkheimer und Adorno nach Kalifornien, wo sich eine Exilgemeinde mit Thomas Mann, Bertold Brecht, Fritz Lang, Hanns Eisler und Arnold Schönberg bildete. Den Austausch und der Dialog, in dieser Gemeinde haben einen Einfluss auf die Entwicklung des Instituts. Horkheimer und Adorno arbeiten nach 1941 an der Dialektik der Aufklärung und entdecken überraschende Parallelen zwischen dem Treiben in Hollywood und Hitlerdeutschland, (S. 269 ff.) woraus sich ein Angriff auf die Populärkultur entwickelte. Bemerkenswert welch große Rolle die Kunst in ihren Überlegungen spielt: Wieder ein eigener Lesebericht!

Kapitel 12: Der Kampf gegen den Faschismus. Einige Mitglieder des Instituts wie Löwenthal, Neumann oder Marcuse arbeiteten im Kampf gegen Nazideutschland mit der amerikanischen Regierung in Washington zusammen. Adorno und Horkheimer blieben in Kalifornien. Die Vielfalt der unterschiedlichen theoretischen Ansätze im Kampf gegen die Nazis wurde von dem  entsetzlichen Grauen ihre Verbrechen überlagert: „Von der nie zuvor erfahrenen Marter der Erniedrigung der im Viehwagen Verschleppten [fällt] das tödlich-grelle Licht noch auf die fernste Vergangenheit,“ schrieb Adorno. (S. 310)

Die schleppende Aufarbeitung des Nationalsozialismus zeigte sich auch schon 1953 im Dialog zwischen Habermas und Heid gger (S. 320), dessen Schweigen Habermas für symptomatisch „für den in der neuen Bundesrepublik vorherrschenden repressiven Antidiskurs hielt. (S. 321) 1951 erscheint Adornos Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben.

Die sechziger Jahre kulminieren im Mai 1968: Vgl. dazu auf unserem Blog > Mai 68. Schwächelte das Institut für Sozialforschung? Marcuses Einfluss kennzeichnet Jeffries so: „Das Lustprinzip hatte das Realitätsprinzip absorbiert.“ Hatte man zuviel über die Befreiung der Sexualität gesprochen? Sartre hatte sich Ende der sechziger Jahre mit Marcuse zum Diner im Restaurant La coupole verabredet und mit geschickten Zwischenfragen hat Sartre Marcuse durch seine nicht existierende glänzende Kenntnis seiner Werke beeindruckt. Wurde das Institut von der Studentenbewegungen im Mai 68 links überholt? Sicher ist, es war auf eine politische Umbruchsituation nicht vorbereite und wollte es wohl auch nicht sein.

Der letzte Teil des Buches enthält einen Abschnitt über Jürgen Habermas und die Kritische Theorie nach 1968: „Ich teile die Grundannahme der Kritischen Theorie nicht, die Annahme, dass die instrumentelle Vernunft so übermächtig geworden ist, dass es tatsächlich keinen Ausweg mehr aus einem umfassenden Verblendungszusammenhang gibt, in welchem Erkenntnis nur noch isolierten Individuen in blitzartigen Erleuchtungen möglich ist.“ (S. 431) Bei der Entgegennahme des Adornos Preise 198 hielt Habermas eine Rede mit dem Titel „Die Moderne -Ein unvollendetes Projekt“ Und Jeffries zitiert  aus „der philosophische Diskurs der Moderne: „Die Modern kann und will ihre orientierenden Maßstäbe nicht mehr Vorbildern einer anderen Epoche entlehnen, sie muss ihre Normativität aus sich selber schöpfen.“ (S. 433) Das klingt nach Aufbruch und Autonomie der Kunst. Das ist Weiterentwicklung der Frankfurter Schule. Jeffries: „Die Vernunft hat die Menschen nicht, wie die Lehrer von Horkheimer behauptet hatten, versklavt, sondern befreit.“ (S. 435)

Fazit. Studenten der Geisteswissenschaften, Literatur, Geschichte, Philosophie, Soziologie und Politik eingeschlossen, sind gut beraten, wenn sie zu Büchern greifen, die ihnen eine politische Ideengeschichte präsentieren. In diesen Zusammenhang gehört das Buch von Stuart Jeffries unbedingt auf ihr Regal oder besser noch in ihren Hand. Hier wird Zeitgeschichte mit den Biographien ihrer bedeutendsten Vertreter erläutert. Spannend ist vor allem die Verbindung von Zeitgeschichte mit den Analysen der Vertreter des Instituts für Sozialforschung, seine Fortführung im Exil, die Gestaltung empirischer Studien, das Aufgreifen neuer Einflüsse,  der Musik und der Kunst, die in diesem Lesebericht viel zu kurz gekommen sind. Es muss ausdrücklich betont werden, dass Jeffries die kulturelle Bedeutung des Frankfurter Instituts sehr wohl präzise in den  Blick genommen hat. Ihre Einflüsse fallen hier unter das Stichwort, Jeffries ist es vor allem gut gelungen, die Etappen und Entwicklungen gerade auch aufgrund der Beteiligung verschiedener Disziplinen an der Arbeit  des Instituts zu begründen und zu erläutern.

Heiner Wittmann

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Beteiligte Personen

Stuart Jeffries

Stuart Jeffries, geboren 1962, arbeitete zwanzig Jahre für den »Guardian« und für etliche Zeitungen und Zeitschriften, darunter die »Financial Times« und ...

Stuart Jeffries, geboren 1962, arbeitete zwanzig Jahre für den »Guardian« und für etliche Zeitungen und Zeitschriften, darunter die »Financial Times« und »Psychologies«. Stuart Jeffries lebt in London. Sein Hauptinteresse gilt der Geschichte und der Wirkung der »Frankfurter Schule« von ihren Anfängen bis zu Jürgen Habermas und Axel Honneth. Er setzt sich mit den Einflüssen auf die Umweltbewegung und die Gründungsgeneration der »Grünen«, Rudi Dutschke, Petra Kelly, Joschka Fischer, Daniel Cohn...

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