Das neue Buch von Ulrich Raulff, > Wiedersehen mit den Siebzigern mit dem Untertitel „Die wilde Zeit des Lesens“ berichtet über das Studium in den siebziger Jahre in Marburg und in Paris. Ein Nachachtundsechziger? Jedenfalls war achtundsechzig vorbei, als Ulrich Raulff zum Studium nach Marburg reist. Verpasst hat er aber dann doch nicht viel: „Marburg war eine Art Freilichttheater, in dem man den Stil von 68 noch ziemlich lange studieren konnte,“ (S. 10) schreibt Raulff.“ Mit ironischer aber auch ein einsichtiger Distanz fasst er sein Studenten-Dasein in Marburg zusammen: „Auch der Marburger Student vor vierzig Jahren lebte im unsichtbaren Käfig intellektueller Zeitgenossenschaft.“ (S. 11) Wolfgang Abendroth „das große Tier, das Haupt der Marburger Schule“ (S. 12) mit Erinnerungen an seine eindrucksvollen Vorlesungen, ein „beeindruckender Rhetor“ (S. 13). Hans Heinz Holz wurde Philosophie-Professor und geriet in den Krieg mit Reinhard Brandt. Gert Mattenklott konnte sich erst nach vielen Jahren von der materialistischen Literaturgeschichte befreien. (vgl. S. 16) Und die Erinnerungen an das > Ehepaar Schlaffer, an die Vorlesungen von > Heinz Schlaffer, denen auch > seine Frau „in atemberaubender Garderobe“ (S. 21) folgte.
Neukantianismus und Hermeneutik waren in Marburg vorbei. „Der Geist des juste milieu von heute neigt zu der Vorstellung, die um 68 einsetzende Politisierung der Hochschulen habe dem Geist der Universität als Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden den Garaus gemacht.“ (S. 24) Stimmt nicht, erklärt Raulff: „Das Gegenteil war der Fall. Eine Studentenschaft, die mit größter Selbstverständlichkeit ihre sämtlichen Probleme, die politischen wie die existentiellen, die öffentlichen wie die privaten, ja intimsten, in die Universität und an sie herantrug – in der naiven Erwartung, dort werde eine Lösung sich finden lassen –, eine solch erwartungs- und anspruchsvolle Studentenschaft hauchte dem Mythos der Universität als Gemeinschaft sui generis, ob Staat, Familie oder Polis, neues, frisches Leben ein.“ (S. 24 f) Raulff muss aber doch zu geben: „Im Rückblick erscheinen die frühen Siebziger als Zeit des politischen Niedergangs. Was im Augenblick des Ausbruchs 68 heiße Lava gewesen war, war erstarrt in ideologischen Kleinstpositionen, was umfassende Vision gewesen war, zersplittert in tausend Rechthabereien.“ (S. 26)
Im Regen jobbte Raulff dann am Bücherstand vor dem Haupteingang der Frankfurter Buchmesse: Der Junge mit der Tasche (vgl. S. 46) von Stand zu Stand, um seine Ideen an den Mann und Verlag zu bringen. Und er hat die Zeremonien der ungezählten Empfänge bei den Buchmessesoireen immer wieder erlebt. Auf diesen Seiten spürt man viel von der so anziehenden Faszination des jährlichen Treffens in Frankfurt. Der ständige Rollenwechsel ist dem Verfasser dieser Zeilen auch vertraut. Man reist als Mitarbeiter eines großen Verlags nach Frankfurt, ist dort Verkäufer, Fotograf, Autor, Zuschauer, Flaneur, Leser je nachdem, wann man welchen Stand gerade betritt. Und Raulff hat seinen Suchtstoff Buch beschrieben, später hat er vielleicht nur aus Platzmangel seine Anschaffungspolitik modifiziert. (vgl. S. 53)
Dann geht es nach Paris. Erinnerungen an die Vorlesungen von Roland Barthes: „Seien Vorlesungen waren mondäne Ereignisse…“ (S. 65). Mittags wurde bei > Chartier für einige Francs gespeist. Der Strukturalismus zog alle in seinen Bann. Michel Foucault und Gilles Deleuze hielten Vorlesungen. Deleuze ignorierte die Attestationswünsche der jungen Deutschen, aber Foucault nahm sie mit in sein Büro und schrieb ihnen eigenhändig die begehrten Zettel. Die Erinnerungen an die Vorlesungen im Collège de France: Ein bisschen später bin ich dort in den Vorlesungen von André Chastel und Emmanuel Le Roy de Ladurie gewesen. Oder > René Rémond hat mich zu einer persönlichen Studienberatung in seinem Büro in Paris-X Nanterre empfangen. Wir könnten mit Ulrich Raulff wunderbare Erinnerungen austauschen. Unsere Professoren waren uns für der Start in das intellektuelle Leben. Nach den Vorlesungen in der Paris III Sorbonne-Nouvelle bei dem Kunsthistoriker Carol Heitz waren unsere akademischen Lehrer > Maurice Duverger, Georges Vedel und > Alfred Grosser, Raoul Girardet und auch René Rémond im Institut d’Études Politiques in Paris.
Raulffs Buch weckt Erinnerungen an Paris, an die späten siebziger Jahre, Sobonne-Nouvelle – Paris III und Institut d’études politiques in der Rue St. Guillaume und der Rue de la Chaise. Ein Blick in den Schreibtisch, Ausweise und Metrokarten sind noch griffbereit:
In der Nationalbibliothek haben wir vielleicht unsere Plätze einander gegenüber eingenommen? Es stimmt alles haargenau, wie Raulff das Lesen und Schreiben wie ein Zeremonie im Großen Lesesaal der Pariser Nationalbibliothek beschreibt. Da ist das Gewölbe oder der Keller unter dem Lesesaal mit den unendlich vielen Karteikästen, die von Generationen von Bibliothekaren penibler ausgefüllt wurden. Und da sind auch die
<<< vertrauten Roten Karten, die man beim kurzzeitigen Verlassen des Lesesaals der Nationalbibliothek abstempeln lassen musste; einige liegen noch als Ephemeria in meinen Bücher. Mittags durch das große Tor hinaus in die Rue Richelieu, im Torbogen stand der LE MONDE-Verkäufer, der die geistige Nahrung zum schnellen Mittagessen bereit hielt. Steak-Frites und ein Expresso, dann wieder zurück unter die grüne Lampe an den Lesesaal-Tisch. Mittlerweile waren schon wieder einige Bücher eingetroffen und warten auf ihre Lektüre. Das Buch enthält nicht nur Erinnerungen oder Beschwörungen an vergangene Zeiten. Raulff erzählt vom ständigen Aufbruch, immer neuen Entdeckungen auf die Studenten sich unbedingt einlassen müssen, die sie suchen müssen. Leider verleitet die heutige CreditPointsRechnerei immer nur danach, Sicherheit zu suchen. Unser Studienanfang in Paris war vielleicht eine der aller besten Entscheidungen. Auch wir waren ein wenig zu spät gekommen. > Jean-Paul Sartre saß noch mit Simone de Beauvoir draußen am runden Tisch vo dem Deux Magots. Und in den vielen Bibliotheken „Meine Begeisterung wuchs, als ich bemerkte, dass andere meine Leidenschaft teilten und mit ihnen meine Daseinsform“ (S. 93), der Bibliothèque de la Sorbonne, in der Bibliothèque Sainte-Geneviève am Panthéon, oder in der kleinen, so feinen Bibliothèque Mazarine hätten wir uns treffen können. Und Sonntags, wenn alle Bibliotheken geschlossen hatten, natürlich in der Bibliothek des Centre Pompidous.
Gegen Ende der achtziger Jahre tauchten die ersten PCs auf (vgl. S. 95). Sie werden immer noch als nützliche Helfer verstanden, auch wenn sie z. B. beim Verfassen einer Arbeit über > Camus kaum mehr als eine praktische Schreibmaschine sind: > Schreiben Sie mit der Hand oder der Tastatur? darf man heute mit einem Blick auf unsere geliebten Karteikästen fragen.
In den späten siebziger Jahren war Raulff bei der Gründung der Zeitschrift Tumult. Zeitschrift für Verkehrswissenschaft mit dabei. Abenteuerlust und kaum mehr verband die Redaktionsmitglieder, und Raulff steuerte seine Freude am Bild mit bei: „Anders als in linken Blättern wie dem Freibeuter durften in Tumult die Bilder ein gewisses Eigenleben führen.“ (S. 113)
Und Raulff beherrscht den Vergleich mit Frankreich, mit Paris. Eine Frau, die einen hier mustert, das kann schon mal Minuten dauern. In Paris kaum seine Sekunde: „Alles Göttliche und alles Schöne, schreibt Friedrich Schlegel, ist schnell und leicht.“ (S, 140)
Und dann geht es auch nach London.
Ulrich Raulff,
> Wiedersehen mit den Siebzigern
Die wilden Jahre des Lesens
1. Aufl. 2014, 170 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-608-94893-6