Lesebericht: Steve Sem-Sandberg, Die Elenden von Lódz

Sehr nachdenklich macht der Roman über das jüdische Getto in Lódz, in dessen Mittelpunkt der Judenälteste Mordechai Chaim Rumkowski steht. Er der die Arbeit als Überlebenskampf im Getto organisierte, musste zusehen, wie die deutschen Besatzer immer wieder neue Deportationen in Form von „Aussiedlungen“ organisierten, die und das fanden die Gettobewohner bald heraus, in den Tod führten. Was blieb dem Judenältesten anderes übrig? Die Anordnungen der Besatzungsmacht ausführen, um die Zurückgebliebenen wenigstens noch eine Zeitlang beschützen zu können? Oder sich den Verbrechen der Deutschen entgegenzustellen, um den Untergang derer, die er unter seinem Schutz standen, zu beschleunigen und selber unterzugehen?

Nachgefragt: > Nachgefragt: Steve Sem-Sandberg, Die Elenden von Lodz – 18.11.2011

In dem Roman > Die Elenden von ?ód? gehen Augenzeugenberichte, die in einer Gettochronik zusammengefasst wurde, und fiktionale Abschnitte ineinander über. Steve Sem-Sandberg ist es gelungen, mit Hilfe der Literatur ein sehr dunkles Kapitel der Geschichte des Gettos von Lódz? anhand der Schicksale vieler Einzelpersonen sehr überzeugend darzustellen und so ein Bewusstsein für die von Gettobewohnern erlittenen Qualen zu vermitteln.

Schon bei der Einrichtung des Gettos in ?ód? im Dezember 1939 war das Schicksal seiner Bewohner besiegelt. Der Roman beschreibt die Zeit zwischen April 1940 und Januar 1945. Er beginnt mit einem Prolog, der die Deportation von Alten, die der Judenälteste nicht verhindern kann. Am 13. Oktober 1939 verfügten die Deutschen die Auflösung der kehilla von ?ód?und ernannten Mordechai Chaim Rumkowski zum Judenältessten. Im Februar 1940 wird das Getto bezogen. Sofort wird damit begonnen, Betriebe einzurichten., darunter Schneidereien, Färbereien und Wäschereien. Am 1. Mai wird das Getto geschlossen. Hans Biebow wird Leiter der Gettoverwaltung: „Aus dem Nichts entwickelte sich unversehens der wichtigste Materiallieferant des deutschen Heeeres.“ (S. 60)

Die Deutschen zwingen die Gettoverwaltung und den Judenältesten zu unter Androhung die Selbstverwaltung des Gettos aufzuheben jeden Versuch einer Revolte im Getto energisch zu begegnen. Kollaboration oder Schutz der Juden im Getto. Die Deutschen brachten Mordechai Chaim Rumkowski dazu, in ihrem Sinne auf die Bewohner des Gettos einzuwirken, was der Judenälteste auch tat. Ihm gelang die Aufrechterhaltung der Disziplin umso leichter, wie noch ein Fünkchen Hoffnung auf Befreiung oder die Ausreise bestand. Als allmählich die Ahnung zur Gewissheit wird – die vielen Gepäckstücke, die bei der „Ausreise“ übrigblieben, war nur ein Anzeichen oder vielen – wird die Rolle Rimkowskis auch im Lager zunehmend in Frage gestellt und sein Sturz schien manchmal nur eine Frage von Tagen zu sein.

Sem-Sandberg schildert im Detail wie die Bewohner des Gettos ihr Überleben organisieren wollten. Die Talons, die Lebensmittelkarten der Toten wurden weiterhin beansprucht, und es gelang ihnen diese auch einzulösen. Pinkas Szwarc, genannt Pinkas der felscher wurde ein Meister im Herstellen von Arbeitskarten und Passierscheinen jeder Art. Ihm und anderen gelang es mit kleinen subversicven Aktionen andere zu schützen. Pinkas fertigt auch die Kulissen für Mojsze Pulavers Gettorevue, die über 100 mal aufgeführt wurde, deren Bilder leicht zu erkennende Anklagen darstellten. Oder Chaim Widawskis codiertes Kriegstagebuch, in dem er alle Bewegungen an der Front, so wie er sie durch das Abhören der Radiosender analysieren konnte, ab Frühjahr 1943 aufgezeichnet hatte. Die vielen andren Einzelfiguren, die im Roman Namen und Stimme bekommen, vermitteln einen tiefen Einblick in das Elend und die Verzweiflung, die das Leben im Getto bestimmt haben. Die Abreise der eigenen Kinder mitzuerleben, den eigenen Tod vor Augen enthüllt Dramen von solch ungeheurem Ausmaß, die ein Sachbuchtext darstellen kann, und die ein Roman ungleich einprägender erzählen kann. Sem Sandberg hat diese Gradwanderung zwischen Tatsachentreue und fiktionalen Ergänzungen gewagt und es ist ihm gelungen, dem Leser die Zwänge, denen der Judenälteste nicht entkommen konnte, sehr eindringlich vor Augen zu führen.

Steve Sem-Sandberg wurde für die »Die Elenden von ?ód?« mit dem schwedischen »August-Priset« ausgezeichnet , der dem Deutschen Buchpreis entspricht.

Steve Sem-Sandberg
> Die Elenden von ?ód?
Aus dem Schwedischen von Gisela Kosubek (Orig.: De fattiga i ?ód?)
1. Aufl. 2011, 651 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-608-93897-5