6. April 2021, 37 Grad/22. 15 Uhr/ZDF
Wisch und weg – wie man sich heute verliebt und verpasst.
Ein Film von Tina Soliman und Torsten Lapp
Redaktion: Reinold Hartmann
„Es gibt einfach zu viel Auswahl. Dating-Apps machen es zu leicht, jemanden kennenzulernen. Klappt es nicht sofort, ist man ganz schnell bei der nächsten. Warum das erklären? Das könnte unangenehm werden. Unweigerlich kommen Fragen auf und es kostet Zeit! Also löscht man einfach die Person und geht wortlos weiter“, erklärt Mario (38) das Phänomen, das man „Ghosting“ nennt und das eng mit dem Online-Dating verbunden ist.
Der Begriff „Ghosting“ beschreibt das Phänomen, dass Menschen, die man „datet“, sich scheinbar in Luft auflösen. Der andere verschwindet wie ein Geist. Anrufe oder Nachrichten bleiben unbeantwortet.
Tina Soliman
> Ghosting > Interview mit Tina Soliman: Ghosting – 3. März 2020 |
Vom spurlosen Verschwinden des Menschen im digitalen Zeitalter
1. Aufl. 2019, 358 Seiten, Klappenbroschur
ISBN: 978-3-608-96337-3
Der Akt der plötzlichen Aufhebung der Kommunikation geschieht meist in der Hoffnung, dass die Person realisiert, dass kein Kontakt mehr erwünscht ist. Die Form ist der Inhalt.
Ghosting passiert häufig in einem frühen Stadium der Beziehung. Doch die Verletzung geht auch nach kurzem Zusammensein tief, wenn der Kontakt intensiv war oder das Versprechen auf mehr enthielt. „Er war fast jedes Wochenende bei mir, und es fühlte sich so an, als ob wir zusammen sind: Wir haben Pläne gemacht, sogar was unsere gemeinsame Zukunft angeht. Wir haben sogar darüber gesprochen, dass wir zusammen nach Indien fahren wollen. Ich dachte jedenfalls, wir hätten eine gemeinsame Zukunft“, erzählt Nussin (45). Als nächstes stand erst einmal ein weiteres gemeinsames Wochenende an. Doch plötzlich meldet sich ihr Freund nicht mehr, reagiert auch nicht auf Nussins Kontaktversuche, sperrt und blockiert sie auf den sozialen Plattformen. Es gab zuvor keinen Streit. Im Gegenteil: Nussin hatte für das gemeinsame Wochenende, wie vereinbart, eingekauft. Sie wollten an einem See picknicken. Nun fragt sie sich, was passiert ist: „Als ich realisierte, dass er mich gelöscht hat, habe ich am ganzen Körper gezittert. Mir wurde schlecht. Dann fragte ich mich, was ich falsch gemacht habe, suchte die Schuld bei mir. Ich fühlte mich einsam und weggeworfen. Ich zog mich zurück, wurde depressiv. Und wenn einem das häufiger passiert, denkt man, dass man eben nicht liebenswert ist. Ich dachte gar, dass ich es nicht wert bin, hier zu sein“. Nussin dachte an Suizid. Der Ghost aber ahnt meist nichts von dem seelischen Schaden, den er hinterlässt.
„Die virtuelle Welt macht es wahnsinnig leicht, diesen Konflikt nicht austragen zu müssen. Ich kann schon verstehen, wie verführerisch das ist, einfach zu wischen. Es ist effizient und sehr praktisch. Vor allem verhindert man Kritik an sich selbst. Allerdings entwickelt man sich so nicht weiter und vor allem: Das hat niemand verdient, einfach weggeworfen, entsorgt zu werden. Es ist eine Frage des Anstands und der Reife, das man sich erklärt, bevor man einen Kontakt beendet“, findet die Schweizerin Lucie (47) .
„Man degradiert den Anderen zum Objekt, ja zu einem Ding“, kritisiert Nussin Online-Dating. Man konsumiere Menschen – und dann ab in die Tonne damit. Das nächste Produkt steht ja schon im Regal. So wie sie selbst! Dank der Digitalisierung ist das virtuelle Regal gut gefühlt. Man muss nur zugreifen. Jeder Klick eine Option. Passt einer nicht, geht er eben retour. Das erinnert an einen Online-Einkauf bei Amazon. Wenn in allen Bereichen das Bestellprinzip gilt, warum nicht auch in Beziehungen?