„In einer neuen von Jürgen Overhoff herausgegebenen Ausgabe ist gerade die Große Didaktik von Johann Amos Comenius (1592-1670) mit dem Untertitel Die vollständige Kunst, alle Menschen alles zu lehren in der Übersetzung von Andreas Flitner bei Klett-Cotta erschienen.
Comenius gilt zu Recht als Begründer der modernen Didaktik, die er zwischen 1627 und 1628 verfasst hat und die 1675 in Amsterdam erschienen ist…“ so begann unser Lesebericht: Johann Amos Comenius, Große Didaktik
Heute haben wir Professor Jürgen Overhoff (Universität Münster) in unserem Homeoffice empfangen und ihm einige Fragen zu Comenius‘ Konzeption einer Didaktik gestellt.
Jürgen Overhoff wurde habilitiert mit einer Arbeit über die Frühgeschichte des Philanthropismus, ein Thema der Bildungsgeschichte des 18. Jahrhundert. Er ist seit 2013 Professor für Historische Bildungsforschung an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und leitet dort die Arbeitsstelle für Deutsch-Amerikanische Bildungsgeschichte. Seit 2018 ist er zugleich Präsident der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts. Seit 2022 ist er der Generalherausgeber einer Reihe zeitlos-aktueller Werke der Pädagogik und der klassischen Erziehungsphilosophie, die anlässlich des 125-jährigen Jubiläums der Klett-Gruppe im Verlag von Klett-Cotta erscheinen.
Worin besteht die so erstaunliche Modernität von Comenius? Warum sollte man ihn jetzt wiederlesen, haben wir Professor Overhoff gefragt:
Comenius gilt zu Recht als Begründer der modernen Didaktik, die er zwischen 1627 und 1628 verfasst hat und die 1675 in Amsterdam erschienen ist. Mit seiner Didaktik verbindet er einen gewissen universalen Anspruch: „Didaktik bedeutet die Kunst des Lehrens.“ (S. 47) Adressaten seines Buches sind alle Akteure, die am Schul- und Unterrichtsgeschehen beteiligt sind: von den Eltern, über die Lehrer zu den Schülern und Schulen, wie auch das Gemeinwesen, die Kirche und auch der Himmel.
Westfälische Wilhelms-Universität Münster – Einladung zur Online-Tagung
Klassiker zur Aktualisierung des Pädagogikunterrichts. Wie pädagogische Grundgedanken von Comenius, Rousseau und Herbart den Pädagogikunterricht bereichern können
Die Tagung wird von der Arbeitsgruppe Fachdidaktik Pädagogik organisiert wird und am 22.08.2022 ab 9:30 Uhr via Zoom stattfinden : > Informationsflyer.
Koedukation war für Comenius selbstverständlich. Und er forderte kleine Klassen: 10 Schüler waren ihm am liebsten und er kennt die Gruppenarbeit, für die er bestimmte Vorstellungen hatte, ein „Aufseher“ aus der Gruppe, also ein Verantwortlicher musste die Arbeiten überwachen.
Nicht Wissen soll der Zögling bunkern, sondern die Methoden verinnerlichen. Sind Methoden das gleiche wie die heute in den Lehrplänen so gepriesenen Kompetenzen? wollten wir wissen.
Im 23. Kapitel Die Methoden der Sittenlehre, ein zentrales Kapitel seiner Didaktik, geht es, um das Lernen als einen Wert, als eine Haltung, so wie Comenius die Werte nennt, die seine Didaktik definieren: „Die Kunst, zur Sittlichkeit herauszubilden, lässt sich in 16 Hauptregeln fassen.“ (S. 280) Zu diesen Regeln gehören u.a. „ein richtiges Urteil über die Dinge ist eine Grundlage aller Tugend, Maßhalten, Gerechtigkeit, wie u.a. auch Ausdauer in der Arbeit. Könnten heutige Lehrplanautoren von Comenius noch etwas lernen?
Um die Aktualität dieses Buches dieses Leseberichts zu unterstreichen habe ich im Lesebericht das 26. Kapitel Von der Schulzucht zitiert. Man kennt das aus unseren Schulen, die 7. und die 8. Klassen sind oft schwierige Klassen, die Pubertät und die durch die Corona-Pandemie und die Schulschließungen verursachten Lücken werden oft als Entschuldigung angeführt, falls die 7ener und die 8er mal wieder über Tisch und Bänke gehen. Können Lehrer, die über solche Klassen klagen, bei Comenius Rat finden? Comenius kennt Schule sehr genau: „Wenn dem nicht so ist, so sind daran nicht die Lernenden, sondern die Lehrenden schuld.“ (ib.) Comenius war selber ein Praktiker. Er schrieb seine Große Didaktik erst nachdem er selbst mehrere Schulbücher verfasst hat.
Die kreative Beteiligung der Schüler am Unterricht: Die Art und Weise, wie Schüler ihre schriftlichen Arbeiten im Unterricht verbessern sollen: S. 233 ff., enthält bemerkenswerte Vorschläge, die jede Fachdidaktik von heute, übertreffen. Korrekturen durch die Schülergruppe, und Comenius macht das auf äußerst geschickte Weise, die zum Nachahmen einlädt. Sind alle mit der schriftlichen Arbeit fertig, fängt einer an vorzulesen, die anderen korrigieren, das letzte Wort hat dann, wenn es noch nötig ist, der Lehrer. Comenius deutet schon an, dass Schüler an der Steuerung des Unterrichts beteiligt werden: Heute heißt das Inverted Teaching (Schloss Neubeuern. Internat und Tagesschule)
Comenius‘ Große Didaktik steht für die unbedingte Freiheit des Menschen und vor allem auch für den gegenseitigen Respekt zwischen Lehrenden und Lernenden, den der Autor mit ständigem Blick auf die Natur immer wieder einfordert. Es ist die Vernunft, die Comenius im Vorgriff auf die Aufklärung als Kern seiner Didaktik versteht. Comenius ein Aufklärer avant la lettre?
Johann A. Comenius
Große Didaktik
Die vollständige Kunst, alle Menschen alles zu lehren
Hrsg. von Jürgen Overhoff
übersetzt von Andreas Flitner
mit einem Vorwort von Jürgen Overhoff
1. Auflage, ungekürzte Ausgabe 2022, 432 Seiten, Broschiert
ISBN: 978-3-608-98660-0