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Lesebericht und Interview: Steffen Dobbert, Ukraine verstehen. Geschichte, Politik und Freiheitskampf

Aufgezeichnet von Heiner Wittmann
30.12.2022

Mit der Dauer des Krieges in der Ukraine steigt auch die Zahl der Veröffentlichungen, das Buch  "Ukraine verstehen. Geschichte, Politik und Freiheitskampf", das Steffen Dobbert, ein ausgewiesener Kenner der Ukraine vorlegt, fällt durch die Präzision der Darstellung auf.

Wie kam es zur Unabhängigkeitserklärung der Ukrainischen Volksrepublik am 24. August 1991, nachdem in einem Referendum 90 % der Bürger dafür gestimmt hatten? Zur Beantwortung dieser Frage greift der Autor bis auf das Mittelalter zurück und erläutert in einem zweiten Teil die heutigen Merkmale der ukrainischen Nation.

Lesebericht und Interview: Steffen Dobbert, Ukraine verstehen. Geschichte, Politik und Freiheitskampf

Interview mit Steffen Dobbert, Ukraine verstehen

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Erst wenn man die Geschichte, wie es zu einer ukrainischen Nation trotz ständiger Unterdrückung und Anfeindungen kam, kennt, ist der heutige so entschiedene Widerstand der Ukrainer gegen die russischen Angriffe zu verstehen. Und dann findet man auch eine Antwort auf die Frage, die auf der Buchrückseite U4 gestellt wird: »Warum haben wir so lange den Freiheitskampf der Ukraine nicht verstanden?« Und dann wird einem auch klar, wieso die europäische Nachkriegsordnung auf dem Spiel steht, wenn das größte in Europa liegende Land in einen Krieg hineingezogen wird.

Was hat die Ukraine nicht alles erlebt und wie oft hat sie sich nach schwerwiegenden Niederlagen wieder erhoben! Die Zerstörung des Kosakenstaates, der Holodomor – die Tötung durch Hunger – in der 1930er Jahren, blutige Revolutionen, der Konflikt um die Donbas-Region, die Annexion der Krim, und dann der erneute Angriffskrieg Russlands.

Es geht um die Geschichte dieses Landes, die Kyjiwer Rus, Iwan Masepa oder Budapester Memorandum, das auch Russland 1994 unterzeichnet hat. Man muss  schon fragen dürfen, wieso und woher Wladimir Putin eine solche verquere Geschichtsauffassung hat, mit er einen Anspruch Russlands auf die Ukraine durchsetzen will; hätte er dazu eine wirklich fundierte historische Berechtigung müsste er kein Referendum in den besetzten Gebieten abhalten. Bloße Gewalt reicht als Herrschaftssicherung nicht aus, um dauerhaft eine Bevölkerung für sich einnehmen zu können. Man muss die Geschichte schon neu erfinden, um den Angriffskrieg in der Ukraine rechtfertigen.

Das Buch beginnt mit Taras Schewtschenkos (1814-1862) Gedicht »Das Vermächtnis«, in dem er sein Leiden, die verbannung und seine Sehnsucht nach der Heimat zusammenfasst:

Wenn ich sterbe, so bestattet
Mich auf eines Kurhans Zinne,
Mitten in der breiten Steppe
Der geliebten Ukraine, –

Daß ich grenzenlose Felder
Und den Dnipr und seine Schnellen
Sehen kann und hören möge
Das Gebraus der großen Wellen.

Und am Tag, der euch die Freiheit
Und Verbrüderung wird schenken,
Möget ihr mit einem stillen,
Guten Worte mein gedenken.

Er sollte seine Heimat nicht wiedersehen.

Später ergeht es dem Historiker Mychajlo Hruschewskyj (1866-1934) kaum besser. Er legt eine zehnbändige Geschichte des ukrainischen Reiches vor. Noch heute will Putin von der Kyjiwer Rus nichts wissen und beharrt auf seiner Geschichtsfälschung. Die Entstehung des Kosakentums am Dnipro, Bohdan Chemelnyckyjs Revolte werden von denen, die die Existenz einer ukrainischen Nation leugnen, natürlich übergangen. Wie im ganzen Buch, so beschreibt Steffen Dobbert gerade im 6. Kapitel das ukrainische Nationalbewusstsein trotz (oder gerade) wegen der Russifizierung. Und nach dem Ersten Weltkrieg war es Mychajlo Hruschewskyi, dessen Namen mit der Wiedergeburt einer Nation eng verknüpft ist.

Das heutige Zerstören der lebensnotwendigen Infrastruktur durch die Russen in der Ukraine, das Emmanuel Macron heute in Paris bei der Geberkonferenz ungeschminkt als Kriegsverbrechen bezeichnete, erinnert in fruchtbarer Weise an den „Holodomor, Stalins Massenmord durch Hunger in den 30er Jahre“. Dann kam der Holocaust und der Rassenwahn der Nazis gefolgt „Vom vergessenen Massaker bis zur Seelenbrecherzelle: Das Scheitern des Homo sovieticus.“ Trug und Lug bestimmten auch die anfänglichen Verschleierungsversuche rund um den Super-Gau in Tschernobyl. Mit dem Ende des Sowjetimperiums muss aber sein Erbe aufgearbeitet werden. Es folgte eine Neuanfang mit der Orangenen Revolution, dann die Euromaidan-Revolution.

Und als Resümee eine Analyse des „Prinzip[s] Paranoia: Putins Lügen über die Ukraine“, so als würde es den Freiheitswillen und die Freiheitskämpfe der Ukrainer bisher gar nicht gegeben haben. Es ist eine ganz andere Gesichtsschreibung, eine Fiktion, an die sich Putin klammert. Ob die Russen gehofft hatten, der Präsident Wolodymyr Selenskyi werde sein Land verlassen , wenn russische Panzer vor Kiew auftauchen? Das Gegenteil ist eingetroffen, die Russen mussten aus dem Gebiet um Kiew abziehen und Selenskyi bleibt und führt den Abwehrkampf der Ukrainer gegen die Russen. Immer entschlossener, immer mutiger.

„Ein Krieg, der über die demokratischen Welt entscheidet.“ Ist die Überschrift des 18. Kapitels zu hoch gegriffen? Es ist doch wahr, dass Putin mit seinem Überfall auf die Ukraine für sich die die Budapester Erklärung zerrissen hat, indem er die Souveränität der Ukraine mit Füßen tritt.

Die Europäische Union beruht u.a. auf der Aussöhnung Frankreichs und Deutschlands nach drei fruchtbaren Kriegen. Diese Nachkriegsordnung, mit der Verbannung des Krieges in Europa wird von Putin in seiner radikalen Art in Frage gestellt. Das dürfen sich die Staaten in Europa, die der Europäischen Union, die des Europarates und der Politischen Europäischen Union nicht gefallen lassen. Das meint Dobbert mit dieser Überschrift.

Heiner Wittmann

Ukraine verstehen

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Steffen Dobbert

Steffen Dobbert, geboren 1982 in Wismar, lebte als Stipendiat des Internationalen Journalistenprogramms (IJP) in Odesa und Kyjiw. Insgesamt führten ihn m...

Steffen Dobbert, geboren 1982 in Wismar, lebte als Stipendiat des Internationalen Journalistenprogramms (IJP) in Odesa und Kyjiw. Insgesamt führten ihn mehr als 50 Recherchereisen in verschiedene Teile der Ukraine. Er studierte im finnischen Vaasa, in Lübeck und in Berlin (Diplom­-Betriebs­wirt BA und Master of European Studies M.E.S). Seit 2007 ist er als Autor und Redakteur für ZEIT ONLINE und DIE ZEIT tätig. 2017 wurde er mit dem Deutschen Reporterpreis ausgezeichnet. Kontakt zum Autor...