Lesebericht: Ist der Humanismus am Ende?
Das neue Buch von John Gray

Sein provokativstes Buch kündigt der Klappentext an und verspricht nicht zuviel. Es ist so richtig auch für die geschrieben, die nicht nur immer ihre eigenen Grundüberzeugungen wiederfinden wollen. Von Menschen und anderen Tieren hält was der Titel verspricht. Statt sich als Homo sapiens zu behaupten, ist der Mensch ein Homo rapiens geblieben, unfähig zu jeder Art des Humanismus. Ein Buch zum Nachdenken, voll von Vorwürfen, an die man sich erstmal gewöhnen muss: „Humanisten bilden sich gern ein, ihre Sicht der Welt sei rational.“ (S.11). Damit ist die Richtung vorgegeben. Eine Breitseite auf die Humanisten, die in ihrem Aberglauben die Menschheitsgeschichte für eine Fortschrittsgeschichte halten und damit weiter von der Wahrheit entfernt seien als jede Religion. (ebd.) Deutlicher geht es kaum.
Man darf aber diese erste Seite nicht überlesen, denn John Gray definiert hier das Objekt seines Angriffs. Es ist der unreflektierte Drang nach Fortschritt, der der Menschheit mehr schadet als nützt, es sind hier weniger die Humanisten um 1500, da er hier die Renaissance nicht ausdrücklich nennt. Auf der nächsten Seite wird er aber dann noch deutlicher und zieht eine der Erkenntnisse, die mit der Renaissance und dem Humanismus um 1500 auf das engste verknüpft ist, nicht nur in Zweifel, sondern lehnt sie rundheraus ab: der freie Willen des Menschen, ein Erbe des Christentums existiert für Gray nicht. Der Autor rüttelt an den Überzeugungen des Abendlandes und lässt sie obsolet erscheinen. Und weil es keinen Fortschritt gibt, entwickelt Gray eine weitere Erkenntnis: „Wissen macht uns nicht frei,“ (S.14 f.), und er erinnert an Prometheus, den die Götter, nachdem er ihnen das Feuer gestohlen hatte, an einen Felsen schmiedeten.
Wenn der Mensch sein Schicksal selbst in die Hand nehmen will, wird er merken, dass er auf der Stufe des Tiers verharrt. (S. 18). Die Art und wie Weise, wie der Mensch sein Ökosystem zugrundegerichtet hat, zeigt, dass er nie wirklich seine Technologien in den Griff bekommen kann und wird. Was treibt John Gray, diese Philippika in so strenger Form und so unnachsichtig zu verfassen? Er spricht der Wissenschaft jede rationale Reflexion ab und sieht ihre Ursprünge in „Religion, Magie und Schwindel“ (S. 36). Gray geht davon aus, was die Menschen bis heute auf der Erde angerichtet haben und betreibt Ursachenforschung, die er uns als Thesen angesichts der Umweltkatastrophen, Kriegen und allem anderen Unvermögen der Menschen vorhält.
Natürlich stört es beim Lesen, dass er nicht Autoren nennt, die dem Humanismus verpflichtet waren, wie Pico della Mirandola (1), Niccolò Machiavelli, oder Jean-Paul Sartre, der 1943 in Das Sein und das Nichts eine Begründung der menschlichen Freiheit vorlegte und später erklärte, Der Existentialismus ist ein Humanismus.
Schauen wir uns weitere Voraussetzungen Grays an, um sein Anliegen besser zu verstehen. Für Gray gibt es kein autonomes Subjekt und folglich ist es auch nur allzu dürftig um das menschliche Bewusstsein bestellt. Und das Ich existiert nicht, es ist kaum mehr als ein Grundirrtum des Menschen. Der Autor dieses Buches geht sehr heftig mit dem Menschengeschlecht ins Gericht. Keine der hergebrachten Grundüberzeugungen lässt er gelten. Im zweiten Teil seines Buches untermauert er seine Voraussetzungen und Thesen mit Erinnerungen an die Geschichte. Im Kern geht es dabei immer wieder um das verwerfliche und nutzlose Streben des Menschen nach einem Fortschritt, das als Streben kein Ende kennt, und daher eine Illusion sei. (S. 205) Darum geht es also: Grays Fortschrittskritik ist absolut, duldet kaum einen Widerspruch und ist für ihn der Quell allen Übels, so wie als das, was nach dem Öffnen der Büchse der Pandora entweicht. Manchmal ist das aber eine Frage der Gewährsleute. Für Gray ist es Robert Graves, der an den Mythos des Sisyphos erinnert. Oben angekommen rollt der Stein den Berg wieder hinunter, wo Sisyphos ihn zurückholt, den Kopf von Staub umfangen. Ich halte es lieber mit Albert Camus, der erklärt, dass Sisyphos beim Abstieg Zeit hat, sich über das ganze Ausmass seiner Lage bewusst zu werden.
Vielleicht hat Gray ganz bewußt eine Rhetorik der Übertreibung gewählt, um die Vorstellung von einer grandiosen Selbstüberschätzung des Menschen durch sich selbst zu schärfen. Manche Ansätze in seinem Buch sind bedenkenswert und liefern Stoff für abendfüllende Diskussionen. Die Vorstellung des minimalen Bewusstsein oder Selbstbewusstseins, des quasi nicht existierenden Ich-Begriffs sind Ansichten oder Überzeugungen, die mit der Überrieselung duch die Massenmedien in einen Zusammenhang gebracht werden könnten. Wieviele Mitbürger lassen jeden Abend die Nachrichten aus der Röhre über sich ergehen und schütteln allenfalls mal mit dem Kopf, bevor das Wetter oder der nächste Spielfilm kommt
Es ist beinahe so, als würde Gray von außen einen Blick auf die Menschheit richten und anhand ihrer Gewohnheiten auf ihre Ursprünge, Fähigkeiten und Fertigkeiten schließen. Gray provoziert mit seinem Buch, und man hat ihm eine ganze Menge zu entgegnen. In diesem Sinne rüttelt er auf und verlangt von uns, über die eigenen Überzeugungen und Grundlagen nachzudenken.

(1) Vgl.: G. Pico della Mirandola, Über die Würde des Menschen, Stuttgart 1997, S. 9: „Du wirst von allen Einschränkungen frei nach deinem eigenen freien Willen, dem ich dich überlassen habe, dir selbst deine Natur bestimmen.“

John Gray
> Von Menschen und anderen Tieren
Abschied vom Humanismus
Aus dem Englischen von Alain Kleinschmied (Orig.: Straw Dogs, Thoughts on Humans and Other Animals)
Auflage: 1. Aufl. 2010
Ausstattung: gebunden mit Schutzumschlag
246 Seiten
ISBN: 978-3-608-94610-9