Lesebericht: John Gray und „Die Politik der Apokalypse“

John Gray, Politik der ApokalypseJohn Gray wurde gerade als Professor für Europäische Ideengeschichte an der London School of Economics emeritiert. Er ist als Autor u.a. von Die falsche Verheißung. Der globale Kapitalismus und seine Folgen (1999), The Two Faces of Liberalism (2000) und von Straw Dogs. Thoughts on Humans and Other Animals (2003) (demnächst auf deutsch bei Klett-Cotta) bekannt. > Politik der Apokalypse. Wie die Religion die Welt in die Krise stürzt enthält eine politische Ideengeschichte zur Politik des 20. Jahrhunderts mit einer ausführlichen Bestandsaufnahme ihrer Vorgeschichte. Es geht um den negativen Einfluss der Religionen auf die Politik, der um so gravierender wird, je mehr die Religionen pervertiert werden, um für Herrschaftszwecke jeder Art instrumentalisiert zu werden. Es ist ein streitlustiges Buch und ein Buch mit wohldurchdachten und -belegten Begründungen.

Es ist auch eine Streitschrift gegen den Irakkrieg, wobei die Einleitung zu diesem Teil des Buches, Kap. 5.: Bewaffnete Missionare, bes. S. 234 ff. beispielhaft und überzeugend die Notwendigkeit präziser historischer Kenntnisse für die heutige Politikwissenschaft demonstriert. Über die Beurteilung und die Bewertung der folgenden Passagen können Leser naturgemäß zu unterschiedlichen Ansichten kommen. Im Zentrum von Grays Argumentation steht seine Kritik am neokonservativen Denken, das er als „eine Mixtur aus exzentrischer Realitätswahrnehmung und chiliastischer Phantasterei bezeichnet“ (S. 192).

„Die Politik der Moderne ist ein Kapitel der Religionsgeschichte,“ (S. 9) lautet der erste Satz im Kap. 1: Der Tod der Utopie, in dem die großen revolutionären Umbrüche der letzten beiden Jahrhunderte als „Episoden der Glaubensgeschichte“ gekennzeichnet werden. Mit dem Scheitern des Vorhabens, im Irak eine Demokratie einzuführen, erlitt, so Gray, das utopische Denken eine empfindliche Niederlage, die dem „apokalyptisch religiösen Denken“ einen neuen Aufschwung beschert hat. Im Rahmen der politischen Ideengeschichte wird man das Ende der Utopie (1) oder gar der „Tod der Utopien“ (S.12) nicht ganz so einfach hinnehmen. Sehr lesenswert ist die folgende Darstellung, die die Bedeutung der Begriffe Chiliasmus, Eschatologie (die Lehre von den letzten Dingen) und die Teleologie erklärt und in einen Zusammenhang stellt. Es folgt eine kurzgefasste politische Ideengeschichte, in der immer wieder historische Ereignisse genannt und interpretiert werden. Utopisch sind Projekte, die nicht realisierbar sind. Dazu zählt Gray den Versuch, in Rußland eine Marktwirtschaft nach westlichem Muster oder im Irak eine liberale Demokratie einzuführen. Ausführliche Kapitel werden dem Nationalsozialismus und dem Kommunismus gewidmet.

Gray untersucht, wie Margaret Thatcher sich im Laufe ihrer Amtszeit dem Neoliberalismus zuwendete, um Labour und damit den Sozialismus in Großbritannien zu besiegen, aber durch ihr Scheitern die konservative Partei ruinierte. Tony Blair übernahm neoliberale Wirtschaftsgrundsätze und gründete darauf den Erfolg von Labour, bevor er wegen seiner Rolle im Irakkriege seinerseits scheiterte.

Es folgt eine eingehende Analyse, wie es zum Angriff der USA auf den Irak kommen konnte. Das apokalyptische Denken erschien mit den Attentaten vom 11. September 2001 in der amerikanischen Politik. Es verband sich mit dem Bewusstsein der USA eine universale Mission zu haben. Die Terroranschläge gaben den Neokonservativen einen erheblichen Auftrieb.

Das Buch erklärt auch wie wichtig, die genaue Definition politischer Begriffe ist. Jeder Autor hat eine Tendenz ihnen seine eigne Interpretation mit auf den Weg zu geben. Trotz der historischen Darstellung, wie sich Neokonservatismus und Neoliberalismus entwickelt haben, scheint Gray ihnen einen politischen Erfolg absprechen zu wollen, was sich in seiner grundlegenden Form jeder utopischen Vorstellung zeigt.

Man wird gerade eine Ideengeschichte als Buch immer nur als eine Herausforderung für das politische Denken schreiben können. Jeder Leser wird Lücken finden, wenn seine bevorzugten Autoren nicht auftauchen, wenn manche Akzente anders als gewohnt gesetzt werden, oder wenn bestimmte Formulierungen oder gar Begriffe ungewohnt sind, so wie das Adjektiv liberal in diesem Satz „Der liberale Imperialismus ist jedoch ein politisches Programm, das nicht funktionieren kann.“ (S. 253 und S. 248-253). Gray meint damit einen Imperialismus, der sich auf eine Idee der Menschenrechte beruft. Außer der Ideengeschichte enthält der Band auch eine Analyse der gegenwärtigen Weltpolitik, wenn auch die durch Obama angestoßenen Entwicklungen hier nicht berücksichtigt wurden.

Die eigentliche These des Buches formuliert eine Kritik am liberalen Fortschrittsdenken, das Gray in einen Zusammenhang mit einem Utopismus apokalyptischen Ausmaßes bringt. Gray kommt darauf, weil liberales Exportgut nicht einfach abzuliefern ist, sondern der Dialog im Vordergrund stehen muss. In seinem letzten Kapitel geht es um Die verlorene Tradition des Realismus und jetzt finde ich auch den schon vermissten Hinweis auf Machiavelli, (2) der davon überzeugt war, dass es immer wieder „Interessengegensätze und Konflikte geben wird … die nie weit vom Kriegszustand entfernt“ (S. 297) sind. „Der politische Realismus ist die einzige Form, über Tyrannei und Freiheit oder über Krieg und Frieden nachzudenken, bei der man sicher sein kann, dass sie nicht in einem Glaubenssystem gründet, und die einzige ethisch ernstzunehmende Denkweise, auch wenn sie im Ruf steht, amoralisch zu sein,“ schreibt Gray und ich würde ihn jetzt gerne fragen, ob es in der Politik seiner Meinung nach eine Moral gibt.

John Gray,
> Politik der Apokalypse Wie Religion die Welt in die Krise stürzt
Aus dem Englischen von Christoph Trunk (Orig.: Black Mass. Apocalyptic Religion and the Death of Utopia)
360 Seiten
ISBN: 978-3-608-94114-2

> Gespräch mit Tom Kraushaar über Politik der Apokalypse

1. H. Wittmann, L’utopie, critique et porgrès sociaux, in: Recherches en esthétique, octobre 2005, p. 35-41
2. Vgl. D. Hoeges, > Niccolò Machiavelli. Die Macht und der Schein, C.H. Beck, München 2000.