Ein Grundsatz unserer Leseberichte ist es, die dafür ausgewählten Bücher zuerst zu lesen („Lesebericht“, weil meine > Rezensionen woanders stehen), dann sofort darüber zu schreiben, ohne den Blick auf das Buch durch andere Bewertungen verstellen zu lassen. In dem Fall des Buches von Christian Lindner kann dieser Grundsatz nicht eingehalten werden, da die Medien in den letzten Wochen die Sondierungsgespräche von CDU/CSU, Grüne und der FDP ausführlich kommentiert haben. Die
Entscheidung der FDP unter Christian Linder, die Gespräche in Richtung Jamaika-Koalition nicht fortzusetzen, wirft ein neues Licht auf den Untertitel seines Buches: > Schattenjahre „Die Rückkehr des politischen Liberalismus“. Lindner geht ein sehr großes Risiko ein. Entweder nimmt er die möglicherweise kommende GroKo hin und begnügt sich mit der Opposition oder er setzt auf Neuwahlen mit der Hoffnung, ein noch besseres Ergebnis als 10,7 % am 24. September 2017 zu erreichen.
> Schattenjahre ist eine Mischung aus politischen Memoiren – allerdings recht kurzgefasst – mit Berichten, wie die FDP das Scheitern an der 5 % Hürde bei der Bundestagswahl am 22. September 2013 verkraftet hat, und wie Lindner sie mit einem an die physische Leistungsgrenze gehenden Einsatz über Erfolge und Rückschläge bei den Landtagswahlen sie wieder 2017 in den Bundestag zurückgeführt hat. In seinem Bericht gibt Lindner aufschlussreiche Einblick in die strategische und programmatische Arbeit der FDP. Analysiert werden die Gründe für den Misserfolg 2013, der die FDP zur APO machte. War es jetzt um die FDP geschehen? Das Ende? Lindners Rezept war die Konsequenz: „Die FDP war nicht abgewählt worden, weil sie zu liberal gewesen wäre. Im Gegenteil: Sie war zum Teil zu wenig konsequent liberal aufgetreten,“ und er nennt u. a. die Bankenrettung durch den Steuerzahler, was den Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft nicht entsprochen hätte. (S. 35) In der Politik kann man alles von mehreren Seiten sehen: hätte die FDP Regierungsverantwortung nach 2013 mitgetragen, würde ein solches Urteil möglicherweise anders ausfallen. Und dann die Wählerbewegungen: Die FDP hatte 1,4 Millionen Wähler verloren, davon hatten sich 800 000 entschieden, nicht zur Wahl zu gehen, war das die Strafe für die FDP nicht mehr liberal genug zu sein?
Der Liberalismus war nicht erledigt, lautet die Überschrift des Kapitels, in dem Lindner an das politische Konzept des Liberalismus erinnert: „Ich werbe für einen 360-Grad Liberalismus, der vom Einzelnen in alle Richtungen schaut: Was befähigt ihn, die Hoheit über seinen Lebenslauf zu gewinnen? Was schränkt ihn ein und gibt anderen Macht über ihn? Diese Fragen stellt ein liberaler Politiker?“ (S. 41) Es geht um eine bestimmte Interpretation der Freiheit zusammen mit der Verantwortung. ( vgl. S. 43)
Nachdem Christian Linder Ende 2013 zum Bundesvorsitzenden der FDP gewählt worden war, forderte er den Neuaufbau der FDP, aber das Tal war noch nicht durchschritten, bei der Europa im Mai 2014 verlor die FDP nochmal einen %-Punkt. Jetzt musste die strategische Neuausrichtung greifen, die Linder u. a. mit einem 360-Grad-Liberalismus anlässlich seiner Grundsatzrede auf dem Bundesparteitag im Dezember 2013 skizziert hatte. (S. 126 f.) Es folgte die Entwicklung eines Leitbildes, mit dem die Marke FDP besser kommuniziert werden sollte: „Aus dem Kahn, der vom Kurs abgekommen war, sollte ein wendiges Motorboot werden.“ (S. 135 f.) Auf dem Bundesparteitag wurde das Leitbild „German Mut“ vorgestellt.
Die Mischung von eigenen Erlebnissen, programmatischer Arbeit, Personaldiskussionen, Auseinandersetzung mit der politischen Konkurrenz, wobei Lindner zeigt, wie er auch solche Auseinandersetzungen nutzt, um das (sein) Profil der Partei zu schärfen, lassen den Titel > Schattenjahre etwas vergessen, der Blick nach vorne, kommende Wahltermine sicher im Auge, überwiegt. Kurz zurückgeschaut, einige Erklärungen zum Wahldebakel. Analyse, Entscheidung, Aktion. Deshalb hätte ich einen anderen Titel bevorzugt: Die Rückkehr des Liberalismus, etwas Programmatisches im Haupttitel, das dem Inhalt besser gerecht werden würde. Opposition auch außerhalb des Bundestages ist ja nichts Schlimmes, sondern eine Chance auf einen Neubeginn, auf eine Neuorientierung, eine Zeit, die Lindner für die FDP offenbar gut genutzt hat.
Man wird dieses Buch nach dem Abbruch der Jamaika-Sondierungen jetzt möglicherweise anders lesen, als wenn diese erfolgreich zu einem Koalitionsvertrag geführt hätten. Wieso hat Lindner die Sondierungen abgebrochen? Ging es um die Eigenständigkeit des FDP-Profils, um das er wegen der vielen Kompromisse fürchtete? Ein kritischer Satz zur Kanzlerin „Der Regierungsstil Angela Merkels hat die Ressorts im Bund systematisch entmachtet – im Gegenzug wucherte das Bundeskanzleramt: immer mehr Stellen, immer mehr Bürofläche.“ (S. 321) Aber anstatt diese Art des politischen Klimas zu hinterfragen. Stellt Lindner eine vorsichtige Frage: „Vielleicht wir eine Folge der bunteren Regierungsformate sein, dass das Ressortprinzip stärker zur Entfaltung kommt, dass Minister also eigenständiger in ihrem Bereich gestalten können?“ Damit wird die K-Frage sehr indirekt und fast gar nicht aber implizit gestellt. Wie war das noch? 2009-2013? Die FDP war mit dem Projekt einer Steuerreform an die Regierung gekommen, ein Projekt, das Angela Merkel einfach vergessen hat.
Ein Kapitel ist der Flüchtlingsfrage (S. 203-213): „Je länger der Krisenzustand dauerte, desto planloser wirkte die Regierung,“ (S. 207) und das folgende der extremen Rechten Dem Rechtspopulismus widersprechen (S. 213-222) gewidmet: „Die Freude über die progressive Gesellschaftspolitik des Parlaments (i. e. Ehe für alle, H.W.) wurde dadurch getrübt, dass sich der Meinungsstreit aus dem Plenarsaal in die Talkshows, an die Stammtische und auf die Straße verlagerte. In Frankreich wurde 38 Stunden diskutiert, der Bundestag brauchte für diese Frage nur knapp 40 Minuten. Aber das ist nicht das einzige Thema, das dem Bundestag entzogen wurde, seit 12 Jahren steigt die Zahl der Nachrichten, die von einer Einigung der Fraktionsspitzen, die dann dem Bundestag zur Entscheidung, weniger zur Diskussion vorgelegt werden, stets und ständig. Die Diskussion um die AfD und die von Lindner eher nur streifte Öffnung der CDU nach links (S. 219) bestätigt ihn in der Einsicht, die FDP müsse „einen eigenständigen Weg“ (S. 219) gehen.
Und dann antwortet Lindner direkt auf Emmanuel Macron, der vor dem Sommer 2017 gesagt haben soll, eine FDP an der Regierung sei sein Tod. „Das stimmt nicht,“ schreibt Linder, „denn wir haben ein Interesse am Erfolg Frankreichs und unserer anderen Partner. Deutschland wird nicht stärker, wenn die anderen Stärker werden – im Gegenteil. Falls also trotz der Geldschwemme der Europäischen Zentralbank tatsächlich Mittel für Innovationen fehlen sollten, wird Deutschland sich einer Debatte nicht verweigern.“ (S. 229) und „Die Wahl von Herrn Macron schafft ein Momentum für einen Neustart des europäischen Einigungsprojekts, das Deutschland nutzen sollte.“
> Wie antwortet Deutschland auf die Vorschläge Macrons? – 21. November 2017
Dieser Lesebericht enthält nicht nur Lob. Alle Parteien sind in ihren Programm zur Digitalisierung merkwürdig unscharf, als ob sie nicht wissen, was auf sei zukommt. Das Internet hört nicht an den Staatsgrenzen innerhalb der EU auf, und eine Institution zu diesem Thema auf europäischer Ebene dringend notwendig ist, da nationales Kleinklein hier nicht weiterhilft, Vl. dazu > Conférence de presse du Président de la République, Emmanuel Macron, lors du sommet du numérique à Tallinn, Estonie – 2. Oktober 2017. Beta-Republik Deutschland steht über Lindners Artikel zum digitalen Deutschland. Stimmt, die extreme Vernetzung ist in ihren Folgen „für uns alle ein unentdeckter Kontinent“ (s. 253) Und dann „Die Digitalisierung ist das Mittel, um dem Staat Geld und den Menschen Lebenszeit zu sparen.“ (S. 253) Hm, bis jetzt ist sie bei uns nur ein Mittel um, die 15 oder 20 verschiedenen Formulare für die Steuererklärung zu verarbeiten.
Ganz filigran schimmert in manchen Kapiteln hinter dem Wunsch nach der Runderneuerung der FDP auf der Basis des bewährten Liberalismus auch ein Wunsch nach einer Erneuerung im Bund(estag) – und so dürfte man ihn interpretieren, bei den anderen Parteien – durch. Kritik an der Kanzlerin gibt es zum Thema der Flüchtlinge und wie oben angemerkt gelegentlich zu ihrem Regierungsstil. Der Abbruch der Sondierungsgespräche scheint durch die Sorge des Verlusts der Eigenständigkeit geprägt zu sein, wobei Kompromisse natürlich eingepreist sind, aber das Diktum „Es gibt ja Grenzen“ nicht aufgegeben wird.
Christian Lindner
> Schattenjahre
Die Rückkehr des politischen Liberalismus
2. Druckaufl. 2017, 338 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-608-96266-6