Lesebericht: Claudia Hammond, Tick Tack. Wie unser Zeitgefühl im Kopf entsteht

Oft vergehen Wochen und Monate wie im Flug. Man rennt zum nächsten Termin, zur Arbeit, nach Hause, einkaufen, putzen. Der immer gleiche Alltagstrott. Doch manchmal fühlt sich ein kurzer Moment an, als würde er Stunden dauern. Das Zeitempfinden verändert sich je nach Situation, Gefühlslage und Tätigkeit.

Claudia Hammond ist Psychologin und preisgekrönte Autorin, Rundfunk- und Fernsehmoderatorin sowie Dozentin an der Psychologischen Fakultät der Boston University in London. Sie ist die »psychologische Stimme« im englischen BBC Radio. Mit > Tick Tack macht sie die Regeln der Zeitwahrnehmung auch für interessierte Laien verständlich.

Ein Extrembeispiel für falsche Zeitwahrnehmung sind Menschen in Todesangst. Die Zeit verzehrt sich und scheint fast stillzustehen. Die Autorin führt ein Beispiel des geübten Fallschirmspringers Chuck Berry an, dessen Gleitschirm reißt und der sich im freien Fall befindet. „Für den Betrachter rasten die Sekunden vorbei. Für Chuck dehnte sich die Situation aber fast ins Unendliche aus.“ (S. 15)

Eine weit weniger dramatische Ausdehnung der Zeit zeigte ein Experiment. Mehrere Teilnehmer wurden einander vorgestellt, lernten sich kennen und wurden unverfänglich zu Alltagsthemen befragt. Daraufhin sollten sie sich Wunschpartner aus der Gruppe für ein Einzelgespräch aufschreiben. Einer Hälfte der Teilnehmer wurde bedrückt gesagt, dass so etwas noch nie vorgekommen sei und sich niemand für sie als Partner entschieden hätte, und den anderen, dass sich alle für sie entschieden hätten. Im Einzelgespräch wurde jeder gebeten, 40 Sekunden abzuschätzen. Sagte man ihnen, sie seien beliebt, schätzen sie die Zeit im Durchschnitt auf 42,5 Sekunden, während die, die Ablehnung erfuhren, ca. 63,6 Sekunden angaben. „Das verblüffende Ergebnis dieser Ablehnungsstudie ist, dass der Glaube ein paar fremde Leute würden Sie nicht mögen, Ihre Zeitwahrnehmung verändert. […] Durch die Ablehnung bekamen die Teilnehmer genau mit, was um sie herum passiert. Ihr Gefühl der Unzufriedenheit sorgte für eine Ausdehnung der Zeit.“ (S.  44)

Viele haben eine visuelle, räumliche Vorstellung von Zeit. Dies wird als eine Form der Synästhesie bezeichnet. Ein Beispiel ist, dass Wochentage oder Monate bei manchen Menschen unterschiedlich coloriert sind. „Bei meiner kleinen Umfrage habe ich die Farben aufgelistet, die manche Teilnehmer den Tagen gaben – ein breites Spektrum, von orangefarbenen marmorierten Weiß für Dienstag bis hin zu beigefarbenen Senfton am Freitag.“ (S.116) Auch wiederholte sich die räumliche Visualisierung der Zeit. Zwei Drittel derer, die sich die Monate vorstellten, beschrieben sie als Kreis, Schleife oder Oval, während der kleinere Teil eine Welle oder Spirale sah. Wenig überraschend nimmt die eigene Kultur ebenso Einfluss auf die Wahrnehmung der Zeit. Englisch und auch deutsche Muttersprachler ordnen zumeist die Vergangenheit links, die Gegenwart in der Mitte und die Zukunft rechts an.  Hebräisch Sprechende jedoch genau spiegelverkehrt und Menschen, die Mandarin sprechen ordnen die Vergangenheit oben und die Zukunft unten an. Das lässt sich teilweise auf die Leserichtungen zurückführen, die im europäischen Raum von links nach rechts verläuft, im Hebräischen von rechts nach links und im Mandarin zumindest traditionell von oben nach unten. Dieses Zeitverstehen ist auch in der Sprache in einigen Metaphern zu finden. „Etwas liegt vor uns“, „etwas hinter sich bringen“ sind nur zwei Beispiele.

Je älter man wird, desto öfter neigt man dazu, dem Gefühl zu erliegen, dass die Zeit immer schneller vergeht. Weihnachten, der eigene Geburtstag, etc. kommt von Jahr zu Jahr früher. Laut der „Proportionaltheorie“ vergeht ein Jahr mit zunehmendem Alter schneller, weil es nur einen geringeren Teil des Lebens ausmacht als z. B. bei Kindern. Jedoch würde das bedeuten, dass ein 40-Jähriger kaum noch etwas von einem Tag mitbekommen würde, denn er würde ein vierzehntausendstel seines Lebens betragen. Jedoch kennt Langeweile kein Alter und so kann sich auch mit 40 ein Tag endlos lang anfühlen.

Eine spannendere Theorie ist da der „Erinnerungshügel“. Dieser beschreibt die Zeit zwischen 15 bis 25, in der man einfach so viele neue Erfahrungen macht. „Die Neuartigkeit hat eine derart starke Wirkung auf unser Gedächtnis, dass bei neuen Erfahrungen innerhalb eines Höckers speziell deren Anfang in Erinnerung bleibt. Eine Studie, die bei Erwachsenen die Erinnerungen an das erste Jahr an der Uni abfragte, verzeichnete ganze 41 Prozent davon in der ersten Woche, also der Woche mit den meisten Eindrücken.“ (S. 208) Außerdem wird in dieser Zeit die Persönlichkeit am intensivsten geformt. „Martin Conway, Psychologe an der Leeds Universität […], vertritt die Ansicht, wir würden in dieser Phase der Persönlichkeitsentwicklung besonders lebhafte Erinnerungen abspeichern, die dann zugänglich bleiben, um die geschaffene Persönlichkeit auch zu bewahren.“ (S.  209) Dies wurde auch bei Menschen entdeckt, die einen tiefgreifenden Persönlichkeitswandel erlebten.

Fast am Ende des Buches stellt Hammond mehrere Lösungen für verschiedene Problematiken, die die Zeit so mit sich bringen kann, vor. Zum Beispiel, was man dagegen tun kann, wenn die Zeit langsam vergeht oder eben, an einem vorbeirast, man das Gefühl hat, dass man keine Zeit für etwas hat, um nur drei der acht Probleme anzusprechen, mit denen sich sicherlich die meisten schon auseinandersetzen mussten.

Hammond hat mit > Tick Tack ein Buch für alle geschrieben, die sich für die Psyche und das Gehirn mit seinen Funktionsweisen interessieren. Und natürlich für den Umgang mit der Zeit, dem Verständnis dieser und den immer wieder auftauchenden Problemen. Verständlich und anschaulich erläutert Claudia Hammond viele Studien und Erfahrungen, die nahezu jeder von sich kennt, und macht sie auch für Laien verständlich. Zusammenfassend ist zu sagen, dass > Tick Tack. Wie unser Zeitgefühl im Kopf entsteht ein Buch ist, welches ein wichtiges Thema behandelt, das alle betrifft und mit dem sich jeder identifizieren kann.

Claudia Hammond
> Tick Tack
Wie unser Zeitgefühl im Kopf entsteht
Aus dem Englischen von Dieter Fuchs (Orig.: Time Warped)
2020, 364 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-608-96344-1