Lesebericht: Gerhard Roth, Bildung braucht Persönlichkeit

Gerade ist der Band > Bildung braucht Persönlichkeit von Gerhard Roth erschienen.

> Wie Lernen gelingt: Gerhard Roth auf der didacta 2011 in Stuttgart:
Die Veranstaltung mit Gerhard Roth findet am 22. Februar 2011 von 16 bis 17 Uhr auf der Messe Stuttgart, Kongress-Centrum, Raum C6.2.2 statt.

Der Titel dieses Buches verrät Roths Hauptthese: „Lehren und Lernen“ finden „stets im Rahmen der Persönlichkeit des Lehrenden und des Lernenden, also der höchst individuellen Art des Wahrnehmens, Denkens, Fühlens, Wollens, Handelns sowie der Bindungs- und Kommunikationsfähigkeit eines Menschen“ (S. 35) statt. Mit dieser Definition der Persönlichkeit schlägt Roth eine Brücke von seinem neurobiologischen Ansatz zu den gängigen Verfahren der Psychologie und der Pädagogik, allerdings mit dem Zusatz: soweit sie nicht mit den Forschungsergebnissen der Hirnforschung besonders hinsichtlich der „Verankerung der Persönlichkeit im Gehirn“ abgestimmt werden.

Der Untertitel seines Buches „Wie Lernen gelingt“ verrät, dass der Autor aus seinen Überlegungen Vorschläge zur Verbesserung des Lernbedingungen ableiten möchte. In der Tat, der Autor ist überzeugt, dass überfällige Verbesserungen nur realisiert werden können, wenn grundlegende Funktionsweisen des Gehirns berücksichtigt werden. Dabei verlässt Roth – und das unterscheidet ihn von anderen Neurobiologen – sich aber nicht ausschließlich auf seine neurobiologische Sichtweise, um mit ihr der Pädagogik und der Didaktik neue Richtungen zuzuweisen, sondern er möchte Schuldidaktiker und Pädagogen dazu bewegen, in ihren Arbeiten auch die Ergebnisse neurobiologischer Forschung zu berücksichtigen. (Vgl. S. 277) In diesem Sinne nimmt Roth eine vermittelnde Stellung ein, aber er sagt auch sehr deutlich, dass Forschungsergebnisse, die neurobiologische Einsichten nicht aufnehmen, irrelevant sind. (ib.)

Unter ähnlichen Vorzeichen beschreibt Roth in seiner Einleitung die aktuelle Ausbildungssituation der Lehrer. Die drei Institutionen, die das Bildungswesen bestimmen, – die Vertreter der staatlichen Bildungsbehörden, die Hochschullehrer der Pädagogik und Didaktik sowie die Lehrenden, die mit ihrer Unterrichtspraxis, die weitgehend auf „Versuch und Irrtum“ beruht, weitgehend allein gelassen werden. (S. 14 f.) – stimmen sich nach Roths Einschätzung untereinander nur unwillig ab. Das ist ein weiterer wichtiger Kritikpunkt, der bereits in der Einleitung genannt wird. Folgt man den Konsequenzen dieser Auffassung, waren bisher viele Schulreformen zum Scheitern verurteilt. Nebenbei bemerkt Roth, „dass die akademische pädagogische Ausbildung für die spätere Praxis der Schul- und Weiterbildung weitgehend zwecklos ist.“ (S. 14) In meiner Erinnerung war sie es nicht, aber man darf für Ergänzungen und neue Themen aus der Sicht Roths neugierig sein.

Die unwillkürliche Erinnerung ruft sogleich die Vorlesungen, die Seminare des Begleitstudiums sowie die zwei Jahre des Vorbereitungsdienstes ins Gedächtnis zurück. Natürlich hätte ich damals gerne dieses Buch schon in der Hand gehabt, besonders wenn Fachleiter nach Unterrichtsbesuchen mit Noten ihren Eindruck vom Unterricht bewerteten, bei dem für sie der Lehrende naturgemäß oft allein im Zentrum der Beurteilung stand. Zugegeben, auch ohne neurobiologische Reflexionen gab es auch damals eine Analyse der Unterrichtssituation, mit der der Referendar die Ausgangssituation und die Unterrichtsbedingungen schildern konnte und seine Entscheidungen mit ihren Alternativen zu begründen hatte. Man konnte sich aber damals des Eindrucks nicht erwehren, dass eher individuelle Unterrichtsrezepte der jeweiligen Fachleiter den Ton angaben als wissenschaftlich fundierte Lerntheorien. Diesen Unterschied will Roth mit seinem Buch aufzeigen – Roth sagt ausdrücklich, dass er den „‚pädagogischen Agnostizismus'“ (S. 16) als Befund nicht teilt – und er möchte Lehrern Perspektiven anbieten, über eine begründetet Veränderung von Lehr- und Lernformen in der Schule nachzudenken. Erst wenn man mehr über die Art und Weise weiß, wie das Gehirn Informationen verarbeitet und wie das Gedächtnis Informationen speichert, anders gesagt, wie der Mensch sich seine Welt zusammenbaut, kann man seine eigene Unterrichtspraxis überprüfen und neu bewerten.

Sein 1. Kapitel ist eine Art Anamnese. Wie steht es um die Schule? Ist die Persönlichkeit der Schüler nicht im Blick des Lehrers, wird der Bildungserfolg gefährdet. Kapitel 2 erklärt die psychologischen und neurobiologischen Grundlagen der Persönlichkeit in so einleuchtender Weise, dass man sich fragen möchte, wie eine Lehrerausbildung ohne diese Themen gelingen kann? Lehrer, die ihre Schüler ernst nehmen, sie schon immer als Persönlichkeit akzeptiert haben und sie mit in ihrer Selbständigkeit fördern möchten, haben bisher auch beachtliche Erfolge erzielt. Ihnen dürften Roths Ausführungen eine Unterstützung bei der Ausbildung und Anleitung jüngerer Kollegen sein. Kapitel 3 erklärt die Funktion von Emotionen und Motiven. Im Kapitel 4 geht es um Lernen und Gedächtnisbildung. Geschickt zeigt Roth den Stand der prädagogischen Forschung zu diesem Thema und ergänzt ihn mit den „Neuobiologische(n) Grundlagen des Gedächtnisses“ (S. 109 ff). Kapitel 5 behandelt „Aufmerksamkeit, Bewußtsein und Arbeitsgedächtnis“: Die notwendige Unterteilung des Unterrichts in Phasen mit verschiedenen Aufmerksamkeitsphasen haben wir nach meiner Erinnerung im Ausbildungsseminar intensiv untersucht und geübt. Allerdings können Roths Ausführungen zur Funktion des Arbeitsgedächtnisses hier wertvolle Einsichten vermitteln. Im Kapitel 6 vertritt Roth die Auffassung, dass Begabung eine Voraussetzung für das Lernen und ein Ergebnis des Lernens ist. (vgl. S. 152). Kapitel 7 geht auf die Vertrauensbildung ein. Intelligenz ist nur ein Faktor für den Erfolg. Kapitel 8 zeigt u. a. die Bedeutung der familiären Unterstützung. Kapitel 9 (Sprache) und Kapitel 10 (Bedeutung und Verstehen) systematisieren die bisherigen Ergebnisse Roths und erweitern den Blick auf die Werkzeuge um Wissenserwerb und die Ausdrucksfähigkeit. Aktuelle didaktische Konzepte (Kap. 11) haben es bei Roth nicht leicht. Er fragt gerne und mit Recht, warum die lerntheoretische Didaktik des „Berliner Modells“ gescheitert ist und bemängelt die offenkundigen Defizite behavioristischer Lehrprogramme, die wir auch schon im Vorbereitungsdienst ad acta gelegt hatten. Als Neurobiologe will Roth Hilfestellungen anbieten, ein Ersatz der Pädagogik und Didaktik, wie M. Spitzer (2003), ihn im Sinn hat, (Vg. S. 274) vertritt Roth nicht, denn er weiß, dass die Neurobiologie auch die Ergebnisse er Psychologie und der Neuropsychologie berücksichtigen sollte. Das 12. Kapitel „Bessere Schule, bessere Bildung“ nimmt die ausbordende Stofffülle, den 45-Minuten Takt, die enggezogenen Fächergrenzen und die wenig praktizierte Wiederholung ins Visier – mit guten Gründen, die Roth als Neurobiologie fundiert erklären kann. Keine der Maßnahmen sei wirklich neu, sie wurden nicht von Neurobiologen erfunden, erklärt Roth (vg. S. 307) aber aus der Sicht der Neurobiologie kann man diese Maßnahmen besser beurteilen.

Wie war das früher und heute? Mathe, Deutsch, Physik, Religion und 2 Stunden Französisch und vielleicht noch eine 7. Stunde. Jeder Fachlehrer kommt mit seinen Erwartungen. Und die Schüler erleben einen bunten oft unzusammenhängenden Reigen vieler interessanter Themen, der sich in der Erinnerung oft auf kaum mehr als das flackernde Fernsehbild reduziert aber aufgemischt durch kleine und große Stresstests wie Vokabelarbeiten und punktuellen Wiederholungen in Form von Klassenarbeiten, die die Unterrichtsreihen beenden, vergessen lassen, aber versetzungsrelevant sind. Und wie müsste es sein? Wie könnte der normale – stofflich zu entrümpelnde – Fachunterricht einschließlich notwendigen Frontalunterricht oder besser der unterricht, der sich für eine bestimmte Zeit an alle in der Klasse wendet – ergänzt werden? Die Klasse teilt sich nach Neigungen in Gruppen auf und bereitet – unter der Anleitung ihrer Fachlehrer – mit Hilfe der Schulbibliothek, des Internets, mitgebrachter Zeitungsausschnitte und einer Diskussionsrunde die Unterrichtsreihe „Deutsch-französischen Beziehungen von 1945 bis 1963“ alleine vor. Der Französischlehrer, der Geschichtslehrer und der Deutschlehrer haben dabei drei, vier Zeitstunden oder länger Zeit, ihre Schüler zu beobachten. Beobachte Deinen Schüler, das versuchte auch Jean-Jacques Rousseau dem Leser von Émile ou de l’Éducation einzubläuen. Dabei lernen die Lehrer soviel und gar mehr als ihre Zöglinge. Lehren heißt, Perspektiven eröffnen. Als wir im Bonner Friedrich-Ebert-Gymnasium uns die Verfassung der V. Republik ansahen, meinte eine Schülerin, die ist der Verfassung von Weimar ähnlich, die haben wir heute in Geschichte besprochen und fing an, die Unterschiede und Gemeinsamkeiten beider Verfassungen aufzuzeigen.

Unterricht ändert sich schon, wenn Schüler als Persönlichkeit ernstgenommen werden. Roths Buch macht Lust auf Veränderung. Man lernt in diesem Buch einiges über die Funktion des Gehirns, gerade soviel, um wichtige pädagogische Entscheidungen fundierter begründen zu können. Zuweilen geht Roth aber doch über das Basiswissen hinaus und gibt seine Passion als Neurobiologe zu erkennen. Dann muss man sich echt konzentrieren, um seinen Fachausdrücken zu folgen. Sie gehören aber nun mal zu dem Fundament, von dem die Pädagogik profitieren kann.

Schade, Blogartikel sollen gar nicht so lang sein. Aber dieses Buch reizt zum Erzählen. Manches kann mit nach der Lektüre dieses Buches besser erklären und manches möchte man gerne künftig anders machen, weil man jetzt die Begründungen in der Hand hält.

Gerhard Roth
> Bildung braucht Persönlichkeit. Wie Lernen gelingt
1. Aufl. 2011, 360 Seiten
ISBN: 978-3-608-94655-0