Mit seinem gerade bei Klett-Cotta erschienen Band > Provinz der Moderne mit dem Untertitel Marbachs Weg zum Deutschen Literaturarchiv legt der Berliner Historiker Jan Eike Dunkhase eine Biographie dieser Institution von Weltrang vor.
Diese Institution hat oft ihre Namen gewechselt, zuletzt 2005 als das Schiller-Nationalmuseum (1903), das Deutsche Literaturarchiv (1955) und das Literaturmuseum der Moderne (2006) unter der Bezeichnung Deutsches Literaturarchiv Marbach zusammengeführt wurden. Sein Träger ist der 1895 gegründete Schwäbische Schillerverein. e. V..
Eine Höhepunkt unter vielen war 2009 der Erwerb des Suhrkamp-Archivs, damit stiegen die Archivbestände in Marbach um rund ein Viertel des bisherigen Bestandes. Diese Vergrößerung war auch eine eindrucksvolle Bestätigung der Stellung, die das Literaturarchiv sich bis dahin erarbeitet hatte.
Der Wandel von einer Gedenkstätte in Form eines Museums für Friedrich Schiller hin zu einem Archiv für Literatur mit Weltruf ist das Thema des vorliegenden Buches von Jan Eike Dunkhase und daher umfasst seine Darstellung die Geschichte des Hauses von den Anfangsjahren bis in die 70 er Jahre des letzten Jahrhundert. Das Ergebnis ist eine spannende Analyse eines wichtigen Aspekts der Literaturgeschichte, die sich um die Nachlässe von Dichtern und Schriftstellern kümmert, sie bewahrt und für die Forschung bereithält.
Der spätere Erfolg der einstigen Gedenkstätte Schillers war keineswegs so vorgezeichnet. Er ist dem Wirken seiner Direktoren zu verdanken, die im Dialog mit der Politik und andern kulturellen Einrichtungen, sich bietende Gelegenheiten nicht nur für die Übernahmen von Nachlässen ergriffen, sondern auch im richtigen Moment Weichenstellungen einleiteten, die Dunkhase hier präzise nachzeichnet.
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Im Kapitel Schillers Schwaben erzählt Dunkhase die Marbacher Anfänge mit der Einweihung von Schillers Geburtshaus, das der 1835 gegründete Marbacher Schillerverein erworben hatte, als Gedenkstätte anlässlich des hundertsten Geburtstages Schillers 1859. Es wurde ein kleines Literaturmuseum. 1876 wird das Schillerdenkmal auf der Schillerhöhe enthüllt. 1879 wurde Marbach mit seinem Eisenbahnanschluss an die große Welt angeschlossen. Viele Persönlichkeiten engagierten sich für den Ausbau der Gedenkstätte, unter ihnen Traugott Haffner (1853-1903).
Dunkhase dokumentiert, wie das Literaturarchiv entstand. Es stimmt, der Genius Loci erwies sich als eine Vorbedingung für den Erfolg, für den Weg, wie in einer württembergischen Kleinstadt ein Literaturarchiv mit Weltruf entstehen könnte. Und doch trug die Lage des Städtchens nicht viel dazu bei „… die Idee des Literaturarchivs speiste sich aus anderen Quellen. Mit Schwaben oder Schiller haben sie nicht viel zu tun,“ (S. 39) lautet Dunkhases Urteil. Die Geschichte der Archive mit der Unterscheidung zwischen Registrar- und Sammlungsgut spielte eine Rolle, vor allem aber der Vortrag, den Wilhelm Dilthey 1889 hielt, indem er das Motto für die künftige Entwicklung vorgab:
„Von der Geschichte der Staatsarchive haben wir Literaturhistoriker überall zu lernen. Was hier erreicht wurde, ist unser Ideal.“ (S. 41) Damit war das Ziel vorgegeben, es sollte aber noch fast 70 Jahre dauern, bevor Marbach auf die Zielgerade kam. Der Weg dahin war kompliziert und er ist vielen Personen verdanken, die sich in besonderer Weise um diese Institution verdient gemacht haben, allen voran Bernhard Zeller (1919-2008), der von 1955 bis 1985 als Direktor des Schiller-Nationalmuseums und Geschäftsführer der Deutschen Schillergesellschaft Marbach geschickt den richtigen Weg wies.
Wilhelm Dilthey, Archive für Literatur, in: Deutsche Rundschau 58 (1889), S. 360–375, wiederabgedruckt in: id., Gesammelte Schriften, Bd. 15. Zur Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts. Hg. Ulrich Hermann. Göttingen 1970. 1–16.
Mit Blick auf die von Goethe hinterlassenen Manuskripte, Unterlagen und Briefe und ihre Archivierung in Weimar wie auch der Einfluss auf die Germanistik mittels der Weimarer Gesamtausgabe der Werke Goethes, die von 1887 bis 1919 auf 142 Bände wuchs, wurde auch der Literaturwissenschaft der Weg gewiesen: Dunkhase zitiert (S. 47) Otto Borst, der im Blick hatte, wie „auf lange Zeit hin das entstehungsgeschichtliche und autorzentrierte, autobiographische Betrachtungsmodell von Literatur“ vorherrschen sollte. Viel später erwähnt Dunkhase noch einmal diesen Ansatz des „(Werk-)Biographismus“ (S. 303), der in Marbach gepflegt wird.
Die Sammlungsaktivitäten des Schillervereins begannen mit der Überlassung von Nachlässen ab 1890 durch Gönner wie Kilian Steiner (1833-1904). Er war auch der Autor einer Denkschrift, in der der im Juni 1891 auf die Bedeutung von Archiven für die Literatur hinweist. Er hatte im Sinn, das Schiller-Archiv zu einem Archiv für Dichter und Schriftsteller in Schwaben auszubauen. Schon beginnen Verkaufsverhandlungen und die Geldsuche für wichtige Nachlässe, diesmal Dokumente aus dem Familienarchiv von Schillers jüngerer Schwester Louise, für deren Überlassung im November 1892 ein Vertrag geschlossen wurde.
Im November 1903 erschienen König Wilhelm II und seine Gemahlin Charlotte zur Einweihung des Schillermuseums, dessen Bau im April 1901 begonnen hatte. Otto Güntters (1858-1949) wurde 1904 Direktor des Schillermuseums und prägte dessen Geschichte rund 35 Jahre bis 1938 vgl. S. 85-89, 143 et passim. Unter ihm wurde das Sammelgebiet gepflegt und erfolgreich ausgeweitet. Der Erste Weltkrieg bracht herbe Rückschläge für Marbach mit sich. Dunkhase berichtet vom wachsenden Interesse der Forschung an den Marbacher Beständen: vgl. S. 119 ff. Güntters setzte sich mit Erfolg dafür ein, dass auch lebende Dichter und Schriftsteller gefördert und so an Marbach gebunden wurden. In diesem Sinne ergänzte er die Mitgliederversammlungen durch Dichterlesungen.
Die Nationalsozialisten und ihre Adepten versuchten schon kurz nach der Machtübernahme, Marbach für sich zu nutzen: S. 133-175, auch wenn Weimar von ihnen mehr Aufmerksamkeit erhielt. Dunkhase notiert, dass Güttner in seinen Erinnerungen die Zeit des Nationalsozialismus bis auf die bauliche Erweiterung des Museums ausgespart habe. Güntters Nachfolger Georg Schmückle (1880-1948) wird von Dunkhase als eine „exzentrische Figur“ (S. 154) bezeichnet. Ihm gelang es bei einem Besuch in der Reichskanzlei im Mai 1939 finanzielle Mittel für die Baukosten zu erhalten. Bemerkenswert ist auch dass die Reichsregierung die Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe mit 40 0000 RM förderte. 1943 wurden die Marbacher Bestände mit ihren 66 Kisten im Salzbergwerk Kochendorf bei Heilbronn eingelagert. Nach dem Krieg erhielt Schmückle u. a. auch durch Theodor Heuss entlastende Erklärungen.
Am 30. Juni 1945 folgte Adolf Richter (1893-1968) auf Schmückle, bis Günttner wiedereingesetzt wurde. Sein Nachfolger wurde am 1. Oktober 1946 Erwin Ackerknecht (1880-1960). Im September 1947 wurde zur Neueröffnung des Schiller-Museums geladen
Eine Neugestaltung im Sinne eines „institutionellen Umdenkens“ (S. 241) erfolgte nach der Übergabe des Cotta-Archivs 1952 und dem Amtsantritt von Bernhard Zeller 1955, als dieser im gleichen Jahr zwei Memoranden vorlegte, von denen Dunkhase vor allem das zweite als „die Unabhängigkeitserklärung des Deutschen Literaturarchivs“ bezeichnet (S. 241) Künftig geht es um nichts anderes als das „Gesamtgebiet der deutschen Literatur“, so Zeller (S. 244)
Dunkhase beschreibt akribisch en détail die einzelnen Schritte und die Personen, die zum Gelingen dieses Plans beitrugen. Zu ihnen gehörte auch ein Gast, der 15 Jahre lang im Literaturmuseum wohnte : Eduard Berend (1993-1973): S. 255-259. Mit Ausstellungen, wie die über den Expressionismus 1960 „verwandelte sich das Schiller-Nationalmuseum in ein Literaturmuseum der Moderne.“ (S. 263)
Der Erfolg des Deutschen Literaturarchivs ist beeindruckend, nicht nur durch die Ausweitung seiner Bestände sondern auch durch die vielen Ausstellungen zu literarisch-kulturellen Themen, die ihre Kuratoren geschickt mit den Aufgaben und der Strahlkraft der Marbacher Institution zu verbinden wussten.
Jan Eike Dunkhase
> Provinz der Moderne
Marbachs Weg zum Deutschen Literaturarchiv
1. Aufl. 2021, ca. 496 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, mit zahlreichen Abbildungen
ISBN: 978-3-608-96446-2
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