„Ideen für eine zeitgemäße Demokratie“ steht auf dem Buchdeckel von Marina Weisbands (*1987 in Kiev) Buch > Wir nennen es Politik, das gerade eben bei TROPEN erschienen ist. Eine 24-jährige Studentin der Psychologie, die schon als Politische Geschäftsführerin im Bundesvorstand der Piraten gewesen ist, hat ein Buch darüber geschrieben, wie sie ohne Erfahrung, ohne jede Verbogenheit, ohne politischen Twitter-Account, nur als Marina Weisband in die Politik geraten ist. Frank Schirrmacher spricht von dem „grassierenden Zynismus“(s. Covertext dieses Buches) in der Politik und bezeichnet Weisband treffend als ein Gegenmittel dazu. Man könnte sagen unbedarft, aber auch unvorbelastet, neugierig und mutig – mit
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einem ungetrübten Blick auf das System, frei von Betriebsblindheit“ S. 8 – hat sie eine Blitzkarriere bei den Piraten absolviert. Jetzt hat sie ihre konkreten Ideen zu Veränderungen in unserer Gesellschaft in ihrem neuen Buch dargelegt.
Nicht nur an ihrer persönlichen Entwicklung hatte das Internet einen entscheidenen Anteil, denn „nicht nur unsere Art zu kommunizieren, sondern auch unsere Art zu denken“ (S. 17) hat sich so Weisband modifiziert. Sie war ab 13 online, das hat ihr „Denken ganz anders strukturiert“ (S. 36) „Im Prinzip können wir sogar auf jede verfügbare Information zugreifen, ohne uns bewegen zu müssen,“ (S. 74) schreibt sie. Hinter diesem Urteil steht eine Überhöhung des Internets, die auch die mit ihm verbundenen Chancen für die Politik, die Weisband aus diesem Medium ableiten will, tangiert. Man darf nicht übersehen, dass nur die im Internet gespeicherte Information aufrufbar ist, aber nicht die Informationen, die in Bibliotheken, Archiven und Buchläden vorhanden sind und die wegen der Menge oder aus anderen guten Gründen wie zum Beispiel dem Urheberrecht eben nicht im Internet verfügbar sind. Nota bene: Das Internet ist heute ein Informations- und durch das Web 2.0 – auch ein wichtiges Kommunikationsmedium geworden, das mit seiner Schnelligkeit oft die Qualität der Informationen beeinträchtigt. So ist zum Beispiel die kollektive Intelligenz, die als Autor Pate von Wikipedia ist eher etwas Nebulöses, dass sich auf die Autoren reduziert, die Inhalte für Wikipedia schreiben. Im Bereich der Philologien beispielsweise, ich spreche hier für mein Fach > Romanistik dient das Internet natürlich als Kommunikationsmittel und auch, um Inhalte bekanntzumachen und Online-Bibliotheken – meine Lieblingsseite > > www.gallica.fr – abzufragen. Allerdings ist jede Seminar- oder Zulassungsarbeit zum Scheitern verurteilt, solange sich ihr Autor mit dem Internet begnügt. Noch ein Aspekt: Informationen sind noch lange kein anwendbares Wissen. Noch heute haben Studentinnen und Studenten Schwierigkeiten, sich im Netz zu orientieren. Dabei machen alle gängigen Suchmaschinen ihnen das Leben schwer, weil sie ihnen vorgaukeln, die zuerst angeführten Suchergebnisse seien relevanter als die folgenden… Wer glaubt, alles im Internet finden zu können, überschätzt seine Inhalte und das Netz selbst. Das Internet lädt ein zu einer ungeheuren Vielfalt, die für Studenten auch Orientierungslosigkeit bedeuten kann: >Schreiben Sie mit der Hand oder mit der Tastatur?.
< Wir haben die erste Lesung von Marina Weisband aus ihem Buch am 14. März im Tropicana CLub in Leipzig aufgezeichnet.
Schon erscheint die Forderung am Horizont, dann müsse eben alles ins Netz. Eine solche Forderung wird naturgemäß nicht die Zustimmung der Autoren finden, die mit Fug und Recht daraufbestehen, selber den Publikationsort ihrer Werke wählen zu wollen. Bei ihrem Lob hinsichtlich der Möglichkeiten des Internet ist Weisband so klug, die Gefahren des neuen Mediums, die Verringerung der „Aufmerksamkeitsspanne“ (S. 18) und die fehlende Medienkompetenz sehr wohl im Blick zu haben. Das hindert sie aber nicht daran, ganz entschieden mit guten Gründen dafür einzutreten, die Chancen des neuen Mediums vor allem zu einer Renovierung der Demokratie zu nutzen.
Wenn Weisband auf die Politikmüdigkeit der Wähler zielt (S. 74), verspricht sie sich durch Online-Aktivitäten mehr Offenheit und bessere Einsicht in politische Prozesse. „Liquid democracy“ (s. 77 ff.) ist für sie ein Schlüsselbegriff, mit dem u.a. die Übertragung von Stimmrechten, wie deren ebenso unkomplizierter Entzug beschrieben wird. Schnell kommt sie auf die Vernetzung zu sprechen – sie nennt in diesem Zusammenhang Beispiele u.a. wie das Chatten mit Gleichgesinnten – und resümiert unter dem Gedanken „der absoluten Gleichwertigkeit der Menschen bei vollständiger Ungleichheit“ (S. 39). Daraus entwickelt sie den Reformbedarf unserer Gesellschaft, der ihrer Meinung über den Ansatz der Piratenpartei hinausgeht. Über Inhalte entschieden die Nutzer… „Deshalb ist das Internet eine in sich demokratische Struktur,“ (S. 83) schreibt sie. Das war in Bibliotheken nie anders und überhaupt mit allen Erzeugnissen des menschlichen Geistes schon immer so gewesen. Es waren schon immer die Leser, die Zuschauer, die Zuhörer und die Rezipienten, die über den Erfolg eines Buches oder eines Kunstwerkes entschieden haben und das nicht erst seit der Begründung der Rezeptionsästhetik durch Hans-Robert Jauss in Konstanz.
Weisband ist mit dem Internet aufgewachsen, sie bringt in der Tat ein frisches Denken in die Politik, das manchen Politikern eine wichtige Nachhilfe vermittelt.
Man merkt dem Buch sehr viel Engagement und guten Willen an. Manchmal ist fast auch Enttäuschung zu erkennen, weil die Piraten bisher nicht so recht den Erfolg hatten, denn sie aufgrund des von der Autorin geschilderten Reformbedarfs hätten haben sollen. Weisband scheint ihnen voraus zu sein. Sie sagt das nicht offen, aber umso deutlicher zwischen den Zeilen. Jedesmal wenn Weisband so grundsätzlich wird und aus ihrem Buch ein Lehrbuch für angehende Politiker macht, – Feste Regeln, Dynamische Prozesse und Transparenz (S. 65 et passim) -, merkt man, wie sie vielleicht selber darüber gestaunt hat das alles in so kurzer Zeit beim eigenen Ausprobieren kennengelernt zu haben. Die große Hektik, die sie im Zusammenhang mit ihrer Parteiarbeit beschreibt ist auch dem Sog des Internets mit dem dort so schnellen Aufflackern und verschwinden von Informationen geschuldet.
Die totale Transparenz aller Entscheidungswege, die Veröffentlichung jedes Gedankensplitters hat mich bei meinem ersten und letzten Besuch der Piratenwebsite zuerst echt beeindruckt und dann mehr als erschreckt, weil die Autoren und Leser der Website ihr Leben auf das Ordnen – zumindest im Kopf – dieser ungeheuren Vielfalt reduzieren müssen. Mit soviel Ballast auf ihrem Kahn können sie eigentlich nur kentern. Bleibt als Gegenmassnahme nur der Versuch, > das Tagen von Piraten-Gremien für permanent zu erklären, um jedem Versuch, die Dinge konsensmässig auf ihren Punkt zu bringen, genügend Raum zu geben.
Schade, ich würde sehr gerne – wie hier so oft praktiziert – Marina Weisband Fragen zu ihrem Buch stellen: „Nachgefragt…“ würde dann der Titel des Beitrages auf diesem Blog mit ihrem Video-Interview lauten. Aber unsere Presseabteilung hat mich schon draufhingewiesen, Frau Weisband sei sicher völlig ausgebucht.
Marina Weisband
> Wir nennen es Politik. Ideen für eine zeitgemäße Demokratie
1. Aufl. 2013, 174 Seiten, gebunden
ISBN: 978-3-608-50319-7
Annett Meiritz > Debatte um Online-Parteitage: Piraten drängen auf Mitmachrevolution SPIEGEL ONLINE, 9.3.2013