Lesebericht: Martin Brüne, Der unangepasste Mensch. Unsere Psyche und die blinden Flecken der Evolution

Martin Brüne, Professor für Psychiatrie an der Ruhr-Universität in Bochum und geschäftsführender Oberarzt an der dortigen LWL Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie erklärt Unsere Psyche und die blinden Flecken der Evolution in seinem Buch > Der unangepasste Mensch, das  gerade bei Klett-Cotta erschienen ist.

Es geht um einen großen Bogen von den allerersten Anfängen des Menschen bis in unsere heutige Zeit. Trotz aller Perfektionsmöglichkeiten der Natur und der Anpassungsfähigkeit des Menschen gibt es Probleme nicht nur mit der Entwicklung unserer Organe auch mit unserer Psyche und mit Infektionskrankheiten aller Art. Diese Störungen haben offensichtlich etwas mit dem Bauplan des Menschen zu tun. Sind da Fehler entstanden? Zumindest ist das Geschehen in uns so komplex, dass viele Krankheiten voneinander abhängen und einzeln oder zusammen auf ein „fehlerhaftes Design“ (Umschlagseite) zurückzuführen sind.

Also fängt Martin Bühne seine  Untersuchung ganz von vorne mit dem ersten Erscheinen unserer Vorfahren an und entwickelt in den ersten drei von zehn Kapiteln eine faszinierende Reise durch unsere Evolutionsgeschichte. Vier weitere Kapitel untersuchen unsere heutige Position und die drei letzten Kapitel konzentrieren sich auf Krankheiten und diverse Be-Handlungsansätze.

An wen richtet sich der Band? An uns alle. Wenn Brüne so sehr wissenschaftlich wird, macht er das nebenher, genauer gesagt, um Gesagtes zu illustrieren – er nennt Sachverhalte und sowie man auch Erklärungen und Erläuterungen erwartet, lässt er einen wissenschaftlich getönten Absatz einfließen, aber so dass dieser Lust auf mehr macht – dementsprechend einleuchtend sind seine Erklärungen, wenn er sich wieder sogleich an uns und nicht seine Studenten oder Fachkollegen wendet. Schlagen Sie das Buch auf, lassen Sie sich auf diese Reise von Brüne mitnehmen; es ist unsere Reise und nach der Lektüre ist der Leser etwas abgeklärter, im Sinne von, er kann manche Dinge besser einordnen, z. B. Stress, den wir alle manchmal kriegen, oder psychische Probleme jeder Art, eben auch Depressionen, die unsere hektische Zeit so gerne verursacht.

Unsere Ursprüngen liegen rund 5 Millionen Jahre zurück mit dem Schlüsselsatz „Alle tagaktiven Primaten sind soziale Lebewesen“ (S. 25) als Erinnerung an Robin Dunbar, der die Entstehung der Sprache als Kommunikationsmittel und als Ergebnis der Notwendigkeit, das gegenseitige Lausen zu ermöglichen, verstand: „Soziale Fellpflege“- heute braucht man im öffentlichen Raum eher nur den Daumen – für die Mobiltelefone, notiert Brüne. Sozialverhalten jeder Art erzeugt Stress: die Hackordnung war früh angelegt: S. 27 ff. Spätstarter, Geschlechtliches, Menschentypen und Sesshaftigkeit sind Brünes Stichworte, um die Entstehung des Homo sapiens einzukreisen.

Es lohnt sich, das Kapitel über die Neandertaler zu lesen, denn deren Hinterlassenschaften in Form von Genen, Stichwort Depressionen (S. 85 ff.), beschäftigen uns bis heute. Hier geht es schon los: Krankheiten hat er uns auch vererbt und die Evolution hat die anscheinend nicht in den Griff bekommen, seit vor etwa 500 000 der Neandertaler und der Hompo sapiens sich trennten.

Mit dem 3. Kapitel Steinzeit und Moderne fragt der Autor sind wir lebende Fossilien? Es geht um die Anpassung an die Umwelt und andere Themen der Evolution. Wir glauben im Allgemeinen zu wissen, wie es um die Anpassungsfähigkeit von Mensch, Tier und Pflanze an ihre Umgebung bestellt ist. Anscheinend, so der zu recht erhobenen Zeigefinger, nutzt der Mensch dieses Wissen nicht und hat sich alles erlaubt, was möglicherweise ihn eine Tages gefährden wird, wenn er sich nicht mehr der von ihm zerstörten Umwelt anpassen kann: vgl. S. 102. Stadt und sozialer Stress hängen eng miteinander zusammen. Brüne plädiert mit Recht fast nebenbei an die Notwendigkeit, „die Zusammenhänge (Auch gerade von Krankheitsursachen, W.) mit unserem evolutionären Erbe zu kennen, um geeignete medizinische Grundlagen zu ergreifen.“ (S. 116) – Den Absatz hätte unsere Redaktion gerne auf die U4 dieses Buches geschrieben.

Der Mensch ist ein Ökosystem. Dieser Aussage wird man zustimmen, wenn man „Evolutionäres über den Darm“ (S. 122-139) gelesen hat. Das ist das Kapitel, in dem die meisten wissenschaftliche Begriffe vorkommen und nach der Lektüre dieses Kapitels werden Sie immer noch Lust haben, noch mehr über ihn zu erfahren: Vgl. dazu > Nachgefragt: Die Darm-Hirn-Connection. Revolutionäres Wissen für unsere psychische und körperliche Gesundheit.

Stress und Genetik verdient ein eigenes Kapitel , weil Stress nicht nur aufgrund unserer Gene, sondern auch aufgrund all dessen was wir unserem Körper antun und zumuten für besonders viele Krankheiten verantwortlich ist. Im Prinzip sind manche Funktionen in unserem Körper daraufhin konzipiert, Stresssituationen zu verstehen, bewerten und abzubauen. Mit Brünes Erklärungen kommt man dem Thema auf die Spur, wieso dieser Abbau manchmal nicht funktioniert. Mit diesen Erkenntnissen könnten wir, wenn uns die Grundlagen bewusst sind, Ursachen vermeiden. Zugegeben, der Teil dieses Kapitels über die Genentwicklung ist kompliziert, aber Brüne ist geschickt bei der Vermittlung schwieriger Zusammenhänge. Besonders interessant ist die Erkenntnis, dass historische nicht allzufern zurückliegende Umwälzungen „populationsgenetische Spuren“ (S. 168) hinterlassen haben: also doch ein Einfluss der Umgebung und des Stresses auf die Gene und umgekehrt?

Diese Zusammenhänge rund um die Umweltfaktoren werden im Kapitel 6 über die „Lebensgeschichtliche Muster“ vertieft. Die zeitliche Verschiebung der Pubertät ist dafür ein Zeichen wie auch Familienkonstellationen wie überhaupt alle unterschiedlichen Formen des pace of life (S. 178  et passim) sind dafür verantwortlich und hatten auch eine Auswirkung auf die Chancengleichheit. Keine Wunder, dass so viele „psychische und psychosomatische Erkrankungen Extremvarianten lebensgeschichtlicher Strategien widerspiegeln“ (S. 186) – diesen Hinweis auf die Zusammenhänge, wie sie nunmal so sind und die den Kern dieses Buches ausmachen, hätte unsere Redaktion auch mit auf die U4 aufgenommen. Sie sind nämlich ein deutliches Zeichen dafür, wie viel/sehr die Leser dieses Buches aus ihrer Lektüre hier wirklich etwas lernen können. Natürlich ist das keine Anleitung, sich in Stresssituationen so oder so zu verhalten, wenn man aber die Grundlagen und die folgenden Zusammenhänge einzuordnen weiß, ist das der halbe Weg zur Stressvermeidung oder man kann ihn zumindest besser einordnen.

7. Alter(n). Kein Wunder, dass Brüne uns zunächst Ernüchterndes berichtet. Zum Thema Alzheimer folgt eine Art Forschungsbericht, der aber wie in diesem Buch schon gewohnt für alle Leser verständlich präsentiert wird. Im Kapitel 8 geht es um Schizophrenie, ihre Definition und ihre möglichen Ursachen. „Die Kränkungen der Menschheit“ in Kapitel 10 lassen sich also in erster Linie wenn auch u.a  auf ein imperfektes Design zurückführen. Ganz so als ob der Mensch mit seiner so rasanten Entwicklung in einem für die Welt so überschaubaren Zeitraum, der Evolution nicht genügend Zeit gelassen hätte ihm zu folgen. Der Raubbau an der Natur, den der Mensch so leichtsinnig verübt, kommt noch obendrauf  und setzt ihn Gefahren aus, die auch ambitiöse Regierungsprogramme kaum in der Lage sein werden sie abzumildern.

Was bleibt uns zu tun? Behandlung und Krankenhäuser?  Der Leser spürt, dass Brüne in diesem ganzen Buch an die Ursachen und an eine ganzheitliche Behandlung denkt, die auch das ganze Individuum mit seiner Geschichte in den Blick nimmt: Brüne hat auch einen Leitspruch:  „Ohne Empathie und Zuwendung taugt die beste Medizin nichts“ (S. 278) verbunden mit der „Regulierung und Einhaltung der richtigen Nähe“ zwischen Patienten und Psychotherapeuten.

Martin Brüne
> Der unangepasste Mensch
Unsere Psyche und die blinden Flecken der Evolution
1. Aufl. 2020, ca. 352 Seiten, gebunden
ISBN: 978-3-608-96418-9