Der Historiker muss eigentlich nie fragen, was wäre gewesen, wenn…? Denn mit solchen Vermutungen oder Fragen kann ein historischer Prozess kaum besser verstanden werden, zu vielfältig sind die Faktoren und auch Zufälle, die ein historisches Ereignis beeinflussen. Allerdings ist es durch aus legitim, wenn der Politikwissenschaftler auch mal Alternativen betrachtet, besonders bei anstehenden Entscheidungen, auch bei der Politikberatung, so wie 1962 John F. Kennedy vor der Wahl stand, Angriff oder Blockade Kubas.
Bedenkt man, wie krank und unter welchen Schmerzen John F. Kennedy sein Amt als Präsident ausführte, so könnte das Urteil der Historiker durchaus ambivalent ausfallen: Respekt vor der staatsmännischen Leistung und seinem persönlichen Einfluss, die Kuba-Krise zu entschärfen oder die bemerkenswerte Fahrlässigkeit, die damit verbunden war, einem so schwer kranken Präsidenten die Entscheidungen angesichts eines möglichen Atomkrieges zu überlassen.
Noch schlimmer war es einem seiner Vorgänger ergangen, der nur noch ein Schatten seiner selbst war, als er an den Verhandlungen, die zum Versailler-Vertrag führen sollten, teilnahm: Woodrow Wilson war dafür verantwortlich, dass es vom Oktober 1919 bis zum März 1921 im Weißen Haus eine Art Machtvakuum gab und die USA sich so ihrer internationalen Verantwortung mit so sehr weitreichenden Folgen entzogen.
Ronald D. Gerste hat ein spannendes Buch > Wie Krankheiten Geschichte machen. Von der Antike bis heute verfasst, das mit jedem seiner Kapitel implizit die Frage stellt, wie würde die Welt heute aussehen, wenn diese großen Männer und Frauen alle kerngesund gewesen wären? Wie gesagt, die „wenn“ Frage führt nicht so recht zu etwas… aber dennoch kann man mit dem Buch von Gerste viel lernen. Sind es die großen Männer oder Frauen, die Politik machen oder sind es eher die Begleitumstände, ihre Vorgeschichte, ihre Perspektiven, der Einfluss ihrer Umgebung, die ihre Entscheidungen beeinflussen, ganz egal ob sie gesund oder krank sind?
Die Regierungszeit Friedrichs III. dauerte nur 99 Tage. Am 15. Juni 1888 starb er. Was wäre (nicht) passiert, wenn er bis 1920 oder gar länger gelebt hätte?
Fünf Jahre war Mary Tudor Königin von England. Kaiser Karl V hatte 1555 abgedankt und der Gatte Marys folgte ihm als König Philipp II. von Spanien nach: Würden England und Spanien vereint werden? Aber am 17. November 1558 starb Mary Tudor.
Schon der frühe Tod Alexanders des Großen am 10. Juni 323 v. Chr. im Alter von knapp 33 Jahre kurz vor dem Feldzug auf die arabische Halbinsel hat die Weltgeschichte erheblich beeinflusst.
Die Pest, die den schwarzen Tod nach Europa brachte, dezimierte im 14. Jahrhundert um 30 %. Unvorstellbar war das Leiden und der Schrecken, den diese Epidemie mit sich brachte. Kaum weniger schrecklich waren die Folgen der Syphilis, die auch vor den Großen nicht halt machte. Und es dauerte die 1980, das Jahr in dem die WHO die Pocken als ausgestorben erklären konnte. Und Aids ist heute noch lange nicht überwunden.
Schlachten wäre anders verlaufen, wenn ihre Anführer wie stark kurzsichtige Gustav II. Adolf von Schweden nicht im Schlachtengewühl 1632 bei Lützen wohl die Orientierung und dann das Leben verloren hatte.
Am 28. Februar 1925 starb Reichspräsident Friedrich Ebert und überließ die Weimarer Republik ihrem Schicksal. Wieder hat der Tod der Geschichte eine andere Richtung gegeben.
Und dann erkrankte wiederum ein amerikanischer Präsident. Franklin D. Roosevelt war von 1933-1945 Präsident der USA, der zu Beginn seiner dritten Amtszeit 1941 u. a. unter Bluthochdruck litt, so dass er seinen Staatsgeschäften nur bedingt nachgehen konnte. Er starb am 12. April 1945.
François Mitterrand hat das Wissen um seine Erkrankung über 14 Jahre lang den Franzosen vorenthalten.
Wie ist das mit der Macht? Welche Verantwortung kann man ihren Inhabern zuschreiben, wenn es darum geht, ihr Amt auszuüben im Bewusstsein, dass ihre Fähigkeiten eingeschränkt sind? Begehrlichkeiten entstehen in ihrem Umfeld. Sind sie noch in der Lage, Entscheidungen mit großer Tragweite zu treffen und zu verantworten? Es geht aber auch um die Kontinuität, für die die Machtinhaber und ihr Umfeld sich verantwortlich fühlen. Im Falle von Krankheiten der Mächtigen ist es nicht einfach herauszufinden, inwieweit ihre körperlichen Einschränkungen als Faktor die Oberhand über anstehende Entwicklungen erhalten. Wird damit die Position des Machtinhabers relativiert, weil sich die Macht auf andere Gestaltungsfaktoren verlagert?
Zu diesen und vielen anderen Fragen, die sich aus dem physischen Verfall der Großen ergeben, hat Ronnald D. Gerste eine interessante Untersuchung, die einen weiteren wichtigen Baustein zur Erklärung, wie und unter welchen Umständen Macht ausgeübt wird, hinzugefügt.
Ronald D. Gerste
> Wie Krankheiten Geschichte machen.
Von der Antike bis heute
1. Aufl. 2021, 384 Seiten, Taschenbuch, mit zahlreichen Abbildungen
ISBN: 978-3-608-98418-7