Lesebericht: Simon Strauß, Hg., Spielplan-Änderung

In diesen so bewegten theaterlosen Zeiten legt Simon Strauß uns im richtigen Moment genau das passende Buch vor: > Spielplan-Änderung! 30 Stücke, die das Theater heute braucht. Die beste Vorbereitung auf den Neuanfang nach der Krise. 30 Autor/innen erinnern an Theaterstücke, die heute unbedingt wieder auf der Bühne erscheinen müssten.

> Nachgefragt: Simon Strauß, Spielplan-Änderung – 8. April 2020

Das Ergebnis sind 30 wunderbare Plädoyers für eine Erneuerung der Theaterprogramme. Zuerst ein ganz kurzer prägnanter Auszug („BEZA Die Welt liegt im Argen – ist ihrem Untergang nahe“) aus dem Stück, das anschließend vorgestellt wird und eine Begründung erhält, wieso es unbedingt jetzt wieder auf die Bühne gehört: „Man würde gern auf der Bühne sehen, was das in unserer Zeit bedeuten könnte,“ schreibt Tim Spreckelsen über August von Kotzebue Ueble Laune (1798).

Unsere Theater spielen landauf landab immer das gleiche Repertoire, das von der „Aufführungsstatistik des deutschen Bühnenvereins“ (Carl Hegemann, S. 167) dirigiert wird: „Sie werden gespielt, weil sie eben gespielt werden,“ fügt Hegemann hinzu. Und auch wenn ein Stück „alles enthält, was ein herausforderndes und wirkungsvolles Bühnenereignis braucht,“ – so wie Die rote Mühle, 1924, von Ferenc Molnár kommt es ohne „die höheren Weihen der ‚Hitparade'“ nicht auf die Bühne oder nur mit übermenschlicher Anstrengung.

Und dabei gibt es Deutschland ein so großzügig subventioniertes Theater. Nicht klagen über das, was wir auf unseren Bühnen sehen, will Strauß, sondern hier einmal so richtig davon schwärmen, was wir nicht (mehr) auf unseren Bühnen sehen. Im heutigen Theater werden literarische Entdeckungen sorgfältig gemieden, allenfalls adaptiert und umgeformt. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung veröffentlichte ein Jahr lang Vorstellungen vergessener Theaterstücke, nicht Nachrufe, sondern bewegende Aufrufe, die Spielpläne unserer Theater kraftvoll und mutig rundzuneuern. Strindberg und Ibsen, na ja, und was ist mit Andreas Gryphius, Leo Armenius (um 1650): „THEODOSIA Wen schleift die grimme Schar! / O Jammer! Ist der / Der dieses Reich beherrscht. Welch Abgrund / welches Meer / Der Schmerzen schluckt uns ein.“ (S. 25) oder Der Wanderer (1677/1681) von Aphra Behn: „WILMORE: So arm ich bin, ich würd mich nicht verkaufen.“ (S. 33) oder Der neue Menoza oder Geschichte des Cumbanischen Prinzen Tandi (1774) von Jacob Michael Reinhold Lenz, worüber Dorte Lyssewski so wunderbar schreibt: „Lenz‘ Stück rast durch alle erdenklichen Verhaltensweisen…“ (S. 44) –  in einem Satz wird so dynamisch vorgeführt, wie dieses Stück unser Theaterprogramm ohne langes weiteres Abwarten aufmischen sollte.

„Dieses Buch ist wie eine Schatzkarte. Auf ihr sind viele Geheimwege verzeichnet…., “ schreibt Simon Strauß in seinem Vorwort und diese Wege werden in den 30 Beiträgen offengelegt, so wie zum Beispiel Bernd Stegemann, der Glaube und Heimat (1910) von Karl Schönherr wieder auf der Bühne sehen möchte und als Begründung in einer furiosen Besprechung sogleich eine spannende Theatergeschichte mitliefert: „Und tatsächlich lässt sich  im Spannungsfeld zwischen  der Hitze der Schönherr-Effekte und der Kälte der brechtschen Analysen der politische Raum des Theaters ermessen, der mit Lessings Dramaturgie der Rührung begann.“ (S. 129) Und ein Satz reicht als Grund für die Aufnahme auf den  Theaterzettel: „Glaube und Heimat versetzt die Zuschauenden unmittelbar in die Lage derjenigen, die aus ihrer Heimat vertrieben werden.“ Fürwahr ein Stück für alle, die nur und ausschließlich an sich selber denken, wenn sie das Wort Migrant auch nur aus der Ferne hören.

Das Buch macht echt Lust auf das Theater, weil es nicht nur Anregungen enthält, sondern weil die Summe der 30 Besprechungen alle zusammen auf kluge und auf aufregende Weise Theatergeschichte vorführt. Alles kommt darin vor, die Liebe, die Freiheit – „George Sand hat mit Gabriel  ein Stück geschrieben über Frauen und Männer, über Liebe und Geschlecht und gesellschaftliche Normen, aber vor allem eines über das heute wie damals wichtigste Gut: die Freiheit.“ (S. 76) So Annabelle Hirsch über Gabriek (1839): „LEHRER Ein Mann darf niemals Angst haben“. Wie gesagt die Liebe als immerwährender Treibstoff: Burghart Klaußner hat Ein Monat auf dem Lande (1872) von Iwan Turgenjew wiedergelesen: Natja: „Wie ein Pendel schlägt ihr Herz von Vernunft zur Raserei… Schauplatz ist der Planet der Liebe.“ Und Klaußner will das Stück wieder auf der Bühne (mit uns allen) sehen: „Das, was Vergangenheit war, Zuversicht, Gemeinschaft, Ruhe wird in eine Moderne katapultiert, die unser Stück wie eine Zeitmaschine rasen macht.“ (S. 109)

Pathos. Nino Haratischwili haucht gekonnt diesem Wort eine neue Leidenschaft ein, denn es bedeutet ja Erleben und Leidenschaft (S. 177). Auch wenn manche Theatermacher heute Schnappatmung kriegen, wenn sie „‚Unterhaltung‘ wittern“, so bekommt das Pathos in der Besprechung von Medea (1926) von Jan Henny Jahn einen neuen Klang: Indem wir in diese Abgründe blicken, befreien wir uns vielleicht auch ein Stück von unserer Angst, wir stellen uns ihr. Aber das können wir nur, wenn  wir – die Künstler und die Zuschauer gleichermaßen – bereit sind, uns auszuliefern, dem Düsteren, dem Großen und dem Pathetischen.“ Da steckt doch alles drin! Besonders, so wie man heute zuweilen guckt, was denn ein Stück mit uns macht. Darum geht es, sich hier darauf einzulassen, ein Vergleich mit damals und heute und dabei merken, wie modern ein Stück heute ist. Haratischwili: „Aus der Sicherheit entsteht keine Kunst, kann keine entstehen. Wir – die auf der Bühne stehen und die, die unten im Zuschauerraum sitzen – müssen den Abgrund unter unseren Füßen spüren, denn nur so können wir uns vielleicht auch ein Stück weit befreien.“ (s. 181)

Die moralische Verderbtheit. So wie Liebe, Geiz und Mord auf der Bühne vorgeführt werden, so erscheint dort auch die Niedergang der Moral in Zweimal zwei ist fünf (1907), ein Stück, an das Jan Brachmann erinnert: „Überwiegend ziemlich temporeich, kurzzeitig aber auch im Ton einer erbitterten Abrechnung verhandelt 2 x 2 = 5  die vielfältige Korrumpierbarkeit von  Menschen. Jeder hat einen Punkt, an dem er oder sie so verwundbar ist, das sich die jeweilige Prinzipienfestigkeit als bloße Prinzipchenfestigkeit erweist.“ (S. 193) Es geht um eine Wiederverlobung, und Dora hat ihm doch von dem Kind erzählt, will Ester wissen: „DORA Nee, das habe ich ihm, bei Gott, nicht erzählt! Was geht ihn das an? Es ist doch nicht seines!“

Wie man Wünsche beim Schwanz packt (1944) von Pablo Picasso wird von Hubert Spiegel zur Recht gelobt. In drei Tagen schrieb Picasso dieses surrealistische Drama in sechs Akten, das am 14. Mai 1944 unter der Regie von Albert Camus in der Wohnung von Michel Leiris mit Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir aufgeführt wurde. Die Handlung: Kann man gar nicht nacherzählen, berichtet Spiegel. Aber das Stück enthält alles ohne jede Ausnahme, was Picasso den Besatzern entgegenzustellen wusste: Plumpfuß : „Alle Laternen angesteckt! Und mit aller Kraft die Taubenschwärme gegen die Gewehrkugeln geschleudert. Und in allen zerbombten Häusern die Schlüssel zweimal im Schliss herumgedreht!“ (S. 221) oder die Kunst und somit auch das Theater sind immer allen Schandtaten überlegen oder noch besser, die Kunst des Theaters sichert die Freiheit.

Über die Auswahl in diesem Buch brauchen wir gar nicht zu diskutieren, denn es könnten noch viel mehr Stücke genannt werden und viele werden ihr ungespieltes Lieblingsstück vermissen.  Doch die gestellte Aufgabe ist allerbestens erfüllt: Ändern wir die Spielpläne. Bevorzugen wir die Theater, die ihre Spielpläne aufmöbeln und sich darauf besinnen, die Modernität früherer Autoren, die Theatergeschichte geschrieben haben, wieder auf der Bühne  zu Wort kommen zu lassen.

Simon Strauß (Hrsg.)
> Spielplan-Änderung!
30 Stücke, die das Theater heute braucht
Tropen
1. Aufl. 2020, ca. 262 Seiten, Flexcover
ISBN: 978-3-608-50457-6


> Lesebericht: Simon Strauß, Römische Tage

Es gibt eine eigene Gattung, das Stadtporträt. Simon Strauß hat dafür einen bemerkenswerten und wunderbaren Beitrag geleistet: Römische Tage: „Rom, deine Nähe ist heilsam.“ – „Römische Tage. Jenseits aller Wirklichkeit.“ Schon nach einigen Kapiteln und „An Rom immer nur zu denken, ist, wie eine Geliebte im Süden zu haben…“ (S. 125) sind einige Kollegen unserer Redaktion einfach sofort nach Rom gefahren und lesen dort weiter: „Nur hier sein und hier bleiben.“ Man kann eine Stadt nur erforschen und kennenlernen, wenn man dort seine Seele spazierengeführt hat, schreibt Sartre in einem seiner Stadtporträts. So ist das hier auch. Immer wieder mal betritt der Erzähler das Halbdunkel einer Kirche und erzählt über diejenigen, die den Raum gerade wirklich zu einer Kirche machen…. > Bitte weiterlesen

> Nachgefragt: Simon Strauß: Römische Tage – 2. September 2019