Wie gut kennen Sie sich? Verlassen Sie sich eher auf Ihre mehr oder weniger festgefügte Kenntnis, die (Sie glauben) von sich (zu) haben? Oder interessieren Sie sich auch für die Meinungen Ihrer Freunde, Mitmenschen, Partner, Kollegen? Hören Sie wirklich zu, wenn die Ihnen etwas ganz Persönliches sagen, dass Sie, ihr Ich betrifft? Da haben wir den ersten Stolperstein in dieser Ich-Angelegenheit. Ihr erster Reflex ist wohl sehr oft Ablehnung und Ihr Ich denkt, was fällt dem ein, was maßt der oder die sich an, um über mich zu sprechen. Geht ihn/sie das überhaupt etwas an? Dieser Reflex tritt in Aktion, je kritischer oder gar unangenehmer ihr Gesprächspartner sich über sie äußert. Hingegen ist jedes Lob willkommen und das eigene Ich empfindet es als Bestätigung und Ermunterung. Weiter so, sagt, das Ich.
Eigentlich ist man/frau ja immer fest immer überzeugt, sein/ihr Ich sehr gut zu kennen und trotzdem gibt es immer wieder Situationen, in oder nach denen ihr Ich sich über sich ärgert. Falsch reagiert, kein bisschen schlagfertig, einfach runtergebügelt vom Gegenüber, zu schwach, um klare Kante zu zeigen. Das Ich nimmt sich vor, dass das nicht noch einmal passieren darf, es lernt, um das nächste Mal die Hürde elegant umschiffen zu können. Aber die Hürden kommen immer wieder und beginnen am Selbstwertgefühl zu nagen. Die Ursachen können ganz unterschiedlicher Art sein. Entweder liegt man mit seiner Selbsteinschätzung völlig daneben oder externe Faktoren setzen dem eigenen Ich so zu, dass es labil wird. Dazu kann fortgesetztes Mobbing gehören, Aufgabenentzug im Job oder Betrauung mit Aufgaben die der Qualifikation überhaupt nicht entsprechen. Karriereknicks jeder Art, die ein starkes Ich als Gegenwehr verlangen.
Es ist das Ich, dass in all seinen Facetten die Wahrnehmung, wie wir die Welt um uns herum erkennen und verstehen, steuert. Je fester das Ich gegründet ist, umso leichter sind vermeintliche oder reale Angriffe auf das Ich abzuwehren, umso besser kann man negative Resultate verarbeiten, in dem man versteht, wie die eigene Person, das Ich, auf andere wirkt. Ein stabiles Ich kann Vorwürfe und Kritik konstruktiv verarbeiten und ist auf neue unerwartete Situationen gut vorbereitet. Überraschungen werden genossen, Freude am Neuen stellt sich ein. Ein eher schüchternes Ich gerät hingegen leicht in Panik, wenn eingetretene Pfade verlassen werden.
So, mit diesen Überlegungen schauen wir auf einen Büchertisch und finden das Buch, nach dessen Lektüre unsere Redaktion diese Gedanken hier einführend notiert hat: Steve Ayan hat den Band > Ich und andere Irrtümer. Die Psychologie der Selbsterkenntnis verfasst. Sein Buch ist mehr als nur ein Überblick über die Moderne Selbsterkenntnisforschung, die uns lehrt, dass „Kurzschlüsse und Verzerrungen“ (S. 16) tiefer in unserem Selbstbild liegen, als wir vermuten. Ayan will uns mit diesem Buch beibringen, derlei vermutliche Defizite nicht als Fehler zu verstehen, sondern „als durchaus nützliche Kniffe“, denn sie ausmerzen geht gar nicht, also werden sie konstruktiv zum Lernen und weiterer Erkenntnis genutzt.
Die Kapitel: „Sich betrachten“ zeigt, dass es überhaupt nicht einfach um die Selbsterkenntnis bestellt ist. Bewusstes und Unbewusstes wechseln einander ab. „Sich finden“ fragt nach dem „Mythos vom authentischen Ich“. „Sich vertrauen“ untersucht unsere Motive. „Sich erfinden“ analysiert die sozialen Komponenten unseres Ichs. Sich Überwinden“ bietet Anregungen zur Neujustierung.
Ob das stimmt? „Die meisten Menschen halten sich für besser, als sie sind.“ (S. 25) Oder manche die sich immer unterbewerten. Wie auch immer das Selbstbild ist ein „Schutzschild fürs Ego“ (ib.) und wie das funktioniert und was man daran drehen kann, das zeigt Ihnen die Lektüre dieses Buches. Zunächst geht es um die Untiefen der Selbsterkenntnis: Die Mechanismen der Selbsttäuschung wurzeln zu tief in uns…“ (ib). – natürlich redet sich unser Ich/Ego manches schön, es möchte ja grundsätzlich sich und anderen gefallen. Und dann ist da noch das Bewusste und das Unbewusste, die Ayan keineswegs als Konkurrenten verstanden wissen will, denn beide sind mit dem „einen Geist verwoben“ (S. 45). Aber die Selbsttäuschung muss dennoch genauer untersucht werden: S. 53 ff. Dazu kommt die Außenperspektive, die zur Beurteilung des Ichs/Egos beiträgt. Das ist der Bereich, in dem Äußerungen anderer über uns oft irritierend wirken, weil sie mit unserem Selbstbild nicht korrespondieren. Sie bauen gerne auf Beziehungen zu anderen, dann werden sie sich über Mitmenschen ärgern, die durch ihr Verhalten ihre von sich so geschätzte soziale Kompetenz nicht wahrnehmen wollen oder können.
Sind Sie mit dem ersten Kapitel fertig und haben einige unliebsame Informationen über die Mechanismen der Selbstfindung verdaut, geht es im 2. Kapitel „Sich finden“ um Erklärungen, die für Sie sehr nützlich sein können, um Ihr Selbstbild wieder zurechtzurücken. Natürlich sind die anderen immer doof, das zeigen Tests, weil die Probanden sich oft überschätzen, das passt zum Obengesagten. Authentisch sein: Ayan knapp und präzise: „Authentisch ist, was uns gefällt.“ (S. 107) Sehr interessant „Wie selbsterfüllende Prohezeiungen wirken“ (S. 121) – das Ich hält so manche Tricks bereit, um Ereignisse so zu interpretieren, dass es passt. Hier wird schon angedeutet, wie sehr das Selbstbild sich in jeder Phase ändert und ständig neu angepasst wird.
Das folgende Kapitel „Sich vertrauen“ gibt ihnen die Gestaltungsmittel für Ihr Ich an die Hand, damit Sie gerüstet sind, sich ggf. neu zu erfinden oder nur neu zu justieren. Sicher Sie kennen die Macht der Anderen und das Gewicht der Lebensphasen, die Ihnen immer eine neue Rolle bieten: „In jeder Rolle leiten etwas andere Motive und Ansprüche unser Handeln…“ Mit Sätzen wie diesen wird nochmal deutlich, dass Ihr Ich/Ego überhaupt nichts statisches ist, sondern ein sehr kompliziertes Gebilde, das von Erfahrungen, Perspektiven, eigenen und fremden Urteilen usw. abhängt. Das ist kein Grund zur Resignation sondern damit wird die ständige Veränderbarkeit des Selbstbildes als große Chance dargelegt. Es ist nicht zu verkennen, dass es in jedem auf einigen Prinzipien beruht, die man Persönlichkeit nennen darf, aber hier bei Ayan geht es um Feinjustierungen des Ich/Ego, die dieses Buch so lesenswert machen.
Steve Ayan
> Ich und andere Irrtümer
Die Psychologie der Selbsterkenntnis
1. Aufl. 2019, 303 Seiten, Klappenbroschur
ISBN: 978-3-608-96353-3