Lesebericht: Sue Prideaux, Ich bin Dynamit. Das Leben des Friedrich Nietzsche

Friedrich Nietzsche (1844-1900) hat einige Jahre zu früh gelebt, möglicherweise war er seiner Epoche voraus. Erst nach seinem Zusammenbruch am 3. Januar 1888 setzte allmählich sein Ruhm ein, seine Bücher verkauften sich besser, das konnte er von seinem Fenster aus in Weimar nicht mehr miterleben und vielleicht hätte er sich in den folgenden Jahren auch gegen die Vereinnahmung seiner Werke durch die rechte Szene verwahrt.

Sue Prideaux hat eine spannende Biographie verfasst. Sie beschreibt en détail die Freundschaft und den so intensiven geistigen Austausch mit Richard Wagner (1813-1883) und Cosima Wagner (1837-1930) – 23 Besuche Nietzsches ab Mai 1869 bis April 1872 in der > Villa Tribschen am Vierwaldstättersee, wo er auch ein eigenes Arbeitszimmer bekam – erzählt seine Kindheit in Röcken, seine Jugend in Naumburg, die Schulzeit in Pforta, seine Krankheiten, die vier Jahre Studium in Bonn und Leipzig, das zeitweise so komplizierte Verhältnis zu seinen Schwestern –  bevor er im Herbst 1866 Richard Wagner (vgl. S. 9-16) kennenlernte. 1869 nimmt er den Ruf auf den Lehrstuhl für Philologie der Universität in Basel an. Am 28. Mai hält er seine Antrittsvorlesung > Homer und die klassische Philologie – zeno.org. Er lernt Jacob Burckhardt (1818-1897) kennen. Er wird freiwilliger Krankenpfleger im Deutsch-französischen Krieg und erkrankt schwer.

Ein Senkrechtstarter, der aber auch von den Verbindungen seines Netzwerkes enorm profitierte. Prideaux nennt die Philosophen, die Nietzsche besonders beeindruckt haben, allen voran Friedrich Schleiermacher (1768-1834) mit > Die Welt als Wille und Vorstellung (1819) (zeno.org), den er mit seinen Zweifeln am Christentum als Alternative zu Kant verstand. Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872) (S. 117-147), die Erfahrungen aus seinen vielen Gesprächen mit Wagner verarbeitet und sein Profil als Philosoph schärfte, wird eines seiner Hauptwerke. Er bekommt positive Rückmeldungen von den Wagners, die ihn gleich sehen wollen: „Kommen Sie bald auf einen Husch herüber…“ War die Reaktion Wagners ehrlich gemeint oder wollte er Nietzsche schonen? Friedrich Ritschl (1806-1876), dem Nietzsche nach Leipzig gefolgt war, hingegen markierte sein Exemplar der Die Geburt der Tragödie mit Ausrufen wie „Größenwahn“ – er sollte nicht der Einzige bleiben, der von Nietzsches Entwicklung entsetzt war. Unmittelbar danach folgt seine Schrift über > Die Zukunft unserer Bildungsanstalten (zeno.org): Die „Rückkehr zur Bildung als Selbstzweck“ ist ihm ein Anliegen und seine Kritik ist eindeutig: „…dass nämlich der Staat keine brillanten Köpfe wolle, sondern funktionierende Rädchen im Getriebe, Spezialisten, die gerade soweit ausgebildet werden, dass sie unkritisch und untertänig ihren Beitrag leisten können…,“ (S. 133) schreibt Sue Prideaux.

War Nietzsche sich seiner eigenen Unzeitgemäßheit bewusst? Oder ahnte er sie? „Das eine bin, das andere sind meine Schriften,“ erklärt er in Ecce Homo (1888, ersch. 1908). 1873 stellt er die erste Unzeitgemäße Betrachtung: David Strauß, der Bekenner und der Schriftsteller fertig. 1874 folgt die zweite > Unzeitgemäße Betrachtung: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. – Von seinen Büchern werden nur sehr wenige Exemplare verkauft, das wird sich bis zu seinem Zusammenbruch 1888 nicht ändern. – In dieser Schrift über die Geschichte erscheint das Wort vom „Begriffsbeben“ verbunden mit der Frage „… soll das Erkennen über das Leben herrschen?“ (zit. auf S. 161, vgl. auch das Kap. 7: Begriffsbeben, S. 165-184) Die Wahrheit gibt es in der Wissenschaft genauso wenig wie in der Religion. Jacob Burkhardt mag Nietzsches Argumention nicht folgen.

Ein unsteter Geist war Nietzsche.
Die vielen Reisen nach Italien, die vielen verschiedenen Orte, wo er sich immer für ein paar Wochen, ein paar Monate niederließ, sind kaum nachzuvollziehen. Er wirkte ständig wie ein  von den eigenen Gedanken Getriebener, durch sein Streben, endlich Erfolg zu haben, wie auch durch die  schon vertraute Gewohnheit, die Kritik und die mangelnde Beachtung, gar Verachtung seiner Schriften wegzustecken oder zu übergehen. Seine Misserfolge waren für ihn immer ein neuer Antrieb weiterzudenken.

Prideaux legt hier eine Kulturgeschichte der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland vor. Wagner und sein Ring gehören ebenso dazu, wie dessen gigantische Anstrengungen, seine Idee der Oper als Gesamtkunstwerk in Bayreuth gegen so viele Widerstände zu realisieren. Muss man herausfinden, wer von beiden, Nietzsche oder Wagner dem Anderen mehr gegeben hat? Oder wird die Frage schon mit den Hinweisen darauf entschieden, dass der Schöpfer des Tristans seinem Kritiker und Freund nicht wirklich zu folgen vermochte? Oder dass Nietzsche sich gedanklich von Wagner abwandte? „Der Fall Wagner ist für den Philosophen ein Glücksfall…,“ hieß es in Nietzsche, Der Fall Wagner, in id., Der Fall Wagner. Schriften – Aufzeichnungen – Briefe, hrsg. v. D. Borchmeyer, S.129. Aber 1882/83 schreibt er: „W(agner), der übrig bleiben wird als M(ensch), der im Ungeschmack der Anmaßung am weitesten gegangen ist.“  Id. „Loslösung von Wagner“ (1877-1883), in: Der Fall Wagner, loc cit., S. 413. Die Freundschaft schien dahin zu sein, als Wagner am 21. September 1873 an Nietzsche schreibt: Er habe mit „trauriger Absichtlichkeit zuletzt lange Zeit gänzlich unterlassen, Nietzsche zu schreiben, weil ich … aus purer Eitelkeit immer noch annahm, Sie würden einen Brief von mir auch selbst lesen wollen, was Ihnen übel bekommen mußte.“ (R. Wagner, Briefe, hrsg. v. H. Kesting, München, Zürich 1983, S. 584) – Die Erschütterungen ihrer Freundschaft zeichnet Prideaux genau nach und lässt erkennen, wie hier der Musiker und der Philosoph mit ihren jeweiligen Empfindlichkeiten nicht gerade freundschaftlich miteinander umgehen.

Menschliches, Allzumenschliches
(Kap. 10, S. 221-234) erscheint 1876/78 in Aphorismenform. Der ersehnte Erfolg stellt sich nicht ein und dieses Kapitel endet mit der Aufgabe der Professur in Basel am 2. Mai 1879. Man kann wohl nicht sagen, dass seine publizistische Arbeit ihm seine Stellung gekostet hat, aber auch sein Ansehen war durch seine Publikationen nicht gerade größer geworden. Er wird zum Wanderer und Dauerreisenden zwischen Naumburg, Venedig, Genau,Rom, Luzern und neuen Bekanntschaften darunter Lou Salomé (1861-1939).

Von Genua nah Rappolo, wo er sich in Klausur begab, in der Also sprach Zarathustra entstand, in der er vom Übermenschen spricht, wird die individuelle Tugend, das Wesen des Verbrechens und die Frage nach einem guten Tod erläutert. (vgl. S. 299). Prideaux hat eine bemerkenswerte Art, die Inhalte und die Interpretation der Werke Nietzsches in die Erzählung seiner Biographie so zu integrieren, auf dass sie dem Leser eindrucksvolle Einblicke in die Beweggründe seines Schreibens vermitteln kann.

Auf Jenseits von Gut und Böse (1886)
mit dem Untertitel Vorspiel einer Philosophie der Zukunft (vgl. S: 346-360) folgte 1887/88 Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift und 1889 Götzen-Dämmerung. Prideaux stellt alle drei Werke in eine Zusammenhang, den Nietzsche selber in Ecce homo, „Warum ich ein Schicksal bin“, Abschnitt 1 so kommentiert: „Ich kenne mein Los. Es wird sich einmal an meinen Namen die Erinnerung an etwas Ungeheures anknüpfen – an eine Krisis, wie es keine auf Erden gab, an die tiefste Gewissens-Kollision, an eine Entscheidung, heraufbeschworen gegen alles, was bis dahin geglaubt, gefordert, geheiligt worden war. Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit.“

Sue Prideaux
> Ich bin Dynamit.
Das Leben des Friedrich Nietzsche

Aus dem Englischen von Thomas Pfeiffer und Hans-Peter Remmler (Orig.: I am Dynamite!/A Life of Friedrich Nietzsche)
1. Aufl. 2020, 560 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, zahlreiche Abbildungen
ISBN: 978-3-608-98201-5