Lesebericht: Tina Soliman, Ghosting. Vom spurlosen Verschwinden des Menschen im digitalen Zeitalter

Das aus den USA gekommene Wort erscheint schon 2015 in einem englischen Wörterbuch: > Ghosting ist der Titel des gerade erschienenen Buches von Tina Soliman. Es geht um das spurlose Verschwinden von Menschen im digitalen Zeitalter. Das Verschwinden gab es auch schon früher, nur heute in einem Zeitalter, wo Verbindlichkeiten immer mehr digitalisiert und löschbar werden, erscheint das Phänomen des Ghostings unter einem neuen Licht.

Abbruchangst und das plötzliche Verschwinden gehören eng zusammen. (S. 24) Tina Soliman ist auf Spurensuche gegangen. Wie kommt es dazu, dass Menschen plötzlich, ohne Spuren zu hinterlassen, verschwinden, jede Kontaktmöglichkeit unterbinden und nicht mehr auffindbar sind? Vielleicht ist das die schlimmste und unangenehmste Form, eine Beziehung zu beenden. Den Verlassenen bleibt nur noch das Gefühl, mit einem Geist zu kommunizieren. Die Einbildung übersteigt die Wirklichkeit? Ghosting hat im wesentlichen etwas mit Beziehungsangst (vgl. S. 31) zu tun.

Tina Soliman
<<<< „>Der Sturm vor der Stille Antworten auf die quälende Frage nach dem »Warum«
1. Aufl. 2014, 217 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-608-94804-2

Geister und Ent-Geisterte. Im ersten Kapitel untersucht Tina Soliman das Wesen derjenigen, die einfach so wortlos verschwinden. Ghosting ist viel mehr als ein bloßer Abbruch, er ist eine perfekte Flucht, die einen im wahrsten Sinne des Wortes total entgeisterten Partner zurücklässt. Freiheit und Zwang seien zwei Gegner der Leibe, so Sven Hillenkamp in > Das Ende der Liebe, Stuttgart: Klett Cotta 4/2010. Anhand vieler Einzelschicksale versucht Soliman, das Phänomen des Ghostings zu verstehen. Der plötzliche Abbruch kann auch Selbstschutz sein: vgl. S. 54: Panikanfall nach vorangegangenen Verletzungen oder einfach nur eine Bequemlichkeit einer unliebsamen Auseinandersetzung aus dem Weg zu gehen? Manchmal liegen die Gründe auch in den eigenen Erinnerungen. Oder aus jüngeren Erfahrungen auf Online-Dating-Plattformen. Hoffnungen keimen und verschwinden wie eine gelöschte Datei. Vielleicht ist das augenscheinlich so irrationale Verhalten mancher, die Digitalflucht begehen, auch ein letzter, verzweifelter Versuch, den digitalen oder wirklichen Gefahren zu entkommen, was schon nicht mehr ohne tiefgreifende Blessuren geschehen kann, denn „Ohne Barrieren, ohne Grenzen, ohne Distanzen zwischen ihnen werden sie (i.e. die Menschen) destruktiv“, Richard Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, engl. The Fall of Public Man üb. v. R. Kaiser, Frankfurt/M. 1983, S. 250.


Interview: > «Jeder ist bloß eine Option unter vielen», in: Tagesanzeiger, 1.10.2019

Rezensionen: Lucie Machac: «Nichts ist unsicherer als die Liebe» in: #12 Die Story des tages

> Ghosting: Was tun, wenn er oder sie sich plötzlich nicht mehr meldet – WELT – 6.10.2019


Suchmaschinen der Liebe im 2. Kapitel haben das Liebesleben nicht vereinfacht. Die elektronischen Plattformen können das Leben nicht ersetzen, sie vermitteln allenfalls den „Rausch der Verliebtheit“ (S. 97). 50/50 ? Man kann Glück haben, aber der Grad an Unverbindlichkeit ist wohl online höher als im richtigen Leben und färbt darauf ab. Der Zauber, jemanden auf herkömmliche Weg durch Zufall – wie habt Ihr Euch kennengelernt? – zu begegnen, gibt es nicht im Internet, wo Algorithmen, die früher so romantische Auswahl und Anpassung übernehmen. Was nicht passt, wird nicht zurückgegeben, sondern gelöscht.

Das > September-/Oktober-Doppelheft der PSYCHE ist dem Thema »Digitalisierung. Folgen für Psyche und Kultur« gewidmet. >>>

Noch ein Klick. Das 3. Kapitel vertieft die Aspekte aus Kapitel 2 und zitiert wieder Sven Hillenkamp: „Die unendliche Freiheit führe in eine geradezu existentielle Ess- und Brechsucht.“ (S. 153) Bindungen werden virtueller. Das Je t’aime ist die Losung des Augenblicks bevor die Lust auf Veränderung wieder einsetzt. Die Folgen?

Modern Love. Der Zwang zur freien Wahl im 4. Kapitel beschreibt den immer größeren Abstand zwischen den Menschen. Freiheit versus Bindung. Ist es das Gefühl der Nähe, dem die Menschen immer mehr aus dem Weg gehen wollen? Bindungsangst? Probleme mit dem Selbstwertgefühl? Schüchterne Personen werden in den sozialen Netzwerken munterer und wagemutiger (vgl. S. 195) weil man sich dort bei der Kontaktaufnahme wohl nicht so stark engagiert, wie als wenn man im Bus nebeneinander sitzt und die Hand der Angebeteten berührt. Online bleibt alles in der Schwebe, man weiß schon vorher, dass man einfach den Stecker des PC ziehen kann. Und dann gibt es auch die Variante der Ghosts, die abtauchen und immer mal wieder auftauchen, als wäre das Leben ein Online-Spiel: breadcrumbing (S. 196). Mal gucken, ob der Partner noch da ist.

Unsere politische Atmosphäre oder unser Zeitgeist wird ab S. 211 diskutiert: Ist Merkels Regierungsstil der Stille und des Aussitzens schuld an der Mutlosigkeit und der Langweile der Jugend von heute? (vgl. S. 213): Kann man Flirten lernen? (S. 215) Jedenfalls nicht auf Online-Plattformen, in diesem Sinne gibt es hier kein Missverständnis.


„Eine Persönlichkeit zu entwickeln bedeutet heute, die Persönlichkeit eines Flüchtlings zu entwickeln.“ Richard Sennetts, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, engl. The Fall of Public Man üb. v. R. Kaiser, Frankfurt/M. 1983, S. 294. Man kann Sennetts Thesen sehr wohl auf die heutigen sogenannten social networks anwenden: Die sozialen Netzwerke sind keinesfalls sozial, sondern sie tragen zum Niedergang der Öffentlichkeit gerade durch die Vorspiegelung der Öffentlichkeit erheblich und entscheidend bei. Je mehr gemeinsame Identität festgestellt oder entwickelt wird, je gleicher alle werden, so möchte man hinzufügen, so unmöglicher wird die Verfolgung gemeinsamer Interessen, erklärt Sennett (S. 295). Das ist nicht unbedingt so paradox, wie es klingt. Nur Unterschiede lassen Neugier entstehen und führen zum Entdecken von Neuem. > Facebook überall und allumfassend – die digitale Kontrolle kann eine Bedrohung werden – 23. September 2011 von H. Wittmann


Ghosting geht unter die Haut steht im 5. Kapitel. Mit Einzelschicksalen erläutert Tina Soliman in drastischer Form, die Verletzungen, die die Ghosts hinterlassen. Die Opfer fallen tatsächlich in ein dunkles Loch. Es entstehen Depressionen und auch die Unfähigkeit, neue Bindungen einzugehen. Die Abwesenheit wird zu einer mehr oder weniger starken permanenten Attacke: S, 227 ff. Stress ist verantwortlich für die Auslösung von Depressionen oder trägt zumindest ganz erheblich dazu bei: (S. 252 ff). Aber es gibt auch das „pathologische Verschwinden“: der Ghost ist selber nicht gesund: S. 258 ff.

Das Buch von Tina Soliman kann das Unerklärbare des Verschwindens des geliebten Partners nicht eindeutig erklären, aber sie zeigt durch die Berichte vieler Betroffenen die unterschiedlichen Formen des Ghostings auf, die Betroffenen helfen könnten, die Situation zu verstehen. Oft hat der Ghost selber Probleme, die er in seinem Inneren nicht verarbeiten kann, er hat Schamgefühle, Entschlusslosigkeit und kann nur die Flucht antreten. Er kann sich nicht erklären, vermeidet eine offene Aussprache und wird wahrscheinlich um die Verletzungen wissen, die er seinem Partner zufügt, die er aber seinen eigenen Ängsten unterordnet.

Der Ghost ist nicht einfach nur weg, was er zurücklässt sind seine Beweggründe, alle Verbindungen wie Dateien zu löschen. Der/dem Zurückgebliebenen bleiben die bohrenden Frage, wo ist er/sie, warum?, weshalb? Wird er wiederkommen. Die Ungewissheit nagt an allem, weil oft Fakten oder Aussagen fehlen, um die zugefügten Schmerzen zu verstehen. Die Mutlosigkeit des Ghosts ist keine hinreichende Erklärung für sein Verhalten, dennoch ist das Buch eine Hilfe für Betroffene, um die Folgen ihrer Entscheidungen besser zu verstehen und für die Verlassenen, Hilfestellungen zu bekommen, loslassen zu können.

Tina Soliman
> Ghosting
Vom spurlosen Verschwinden des Menschen im digitalen Zeitalter
1. Aufl. 2019, 358 Seiten, Klappenbroschur
ISBN: 978-3-608-96337-3