Lesebericht: Ulf Poschardt, Mündig

„Mündig und hell vor euch steht der besonnene Mensch -“
Hölderlin, Stuttgart

In Zeiten der von allen Seiten forcierten Digitalisierung, in denen vor allem die sozialen Netzwerke um die Aufmerksamkeit ihrer Besucher buhlen, lohnt es sich, einmal innezuhalten, den Blick vom ständigen Begleiter Smartphone zu heben und darüber nachzudenken, was da eigentlich passiert. Aber, um es gleich zu sagen, Ulf Poschardt hat in seinem Essay > Mündig keineswegs nur die Folgen der Digitalisierung aller Lebensbereiche im Blick, ihm geht es um nichts weniger als um einen Neustart in Sachen politischer und sozialer Teilhabe für den Einzelnen genauso wie für alle.

> Nachgefragt: Ulf Poschardt, Mündig – 11. April 2020

Seine Analyse ist düster und umso mehr will Poschardt aufrütteln, ja auch Widerspruch erzeugen. > Mündig nennt er seinen Essay, in dem er nach und nach viele Lebensbereiche aufzählt, in denen eine eher (selbstverschuldete) Unmündigkeit vorherrscht, in denen die Menschen ihre Potentiale nicht wahrnehmen, die durch andere oder durch diverse Umstände versperrt werden. Wichtige Entscheidungen werden dem Einzelnen abgenommen und das kann bis zu einer Form von Entmündigung auf politischer Ebene reichen. Als Beispiel nennt er den > Populismus mit seinen so vereinfachenden Analysen für komplexe Herausforderungen (vgl. S. 13): Keine Fremden, dann gibt es auch keine Probleme.

Eine Art Gesellschaftsanalyse trägt Poschardt hier vor. Manches ist zugespitzt, er will ja auch aufrütteln und der Widerspruch und die Kritik an seinem Buch wird er zu seinem Erfolg zählen. Er will seine Leser zum Nachdenken bringen, ja zwingen; sie zum Widerspruch herausfordern und sie dazu bewegen, mehr auf ihre inneren Überzeugungen zu hören, als ängstlich auf den Wogen ihrer Umgebung mitzuschwimmen. Es geht um nichts anderes, als den eigenen Verstand wieder anzustellen und sich nicht mehr durch das ständige mediale Gebrassel einlullen zu lassen.

Die Autonomie sollte der Einzelne wieder für sich entdecken. Poschardt weiß, dass das keineswegs einfach ist. Auch Jean-Paul Sartre (1905-1980) erklärte in Das Sein und das Nichts (1943), dass der Mensch grundsätzlich frei sei, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass Freiheit auch Angst verursachen kann. – Die Autonomie des Menschen ist in einem berühmten Buchtitel auch mit der Würde des Menschen verknüpft: „Du wirst von allen Einschränkungen frei“  – sagt der Schöpfer – „nach deinem eigenen freien Willen, dem ich dich überlassen habe, dir selbst deine Natur bestimmen. In die Mitte der Welt habe ich dich gestellt, damit du von da aus bequemer alles ringsum betrachten kannst, was es auf der Welt gibt. Weder als einen Himmlischen noch als einen Irdischen habe ich dich geschaffen und weder sterblich noch unsterblich dich gemacht, damit du wie ein Former und Bildner deiner selbst nach eigenem Belieben und aus eigener Macht zu der Gestalt dich ausbilden kannst, die du bevorzugst.“ (Pico della Mirandola, De hominis dignitate / Über die Würde des Menschen, übers. u. hrsg. v. G v. d. Gönna, Stuttgart 2005, S. 9.) Diese Rede, die Pico della Mirandola (1463-1494) 1486 verfasste, wurde leider  schon damals nicht gehalten. Papst Innozenz VIII. untersagte die von Pico angekündigte Disputation. – Und da wir hier die Autonomie, die Selbständigkeit des Einzelnen erwähnt haben, müssen dazu zwei Aspekte genannt und zitiert werden: „In meinem intimen Denken will ich alleine wohnen. Autonomie … wenn nicht soll man mich in ein Flusspferd verwandeln.“ (Isidore Ducasse = Comte de Lautréamont, Les Chants du Maldoror, in: Œuvres complètes, éd. H, Juin, Paris 1972, S. 201) und man kann es drehen und wenden wie man will, wir sehen schon Ulf Poschardt in unserem > transportablen TV-Studio sitzen: Autonom kann man nicht alleine sein: Als der Journalist Rambert Dr. Rieux verspricht, in Oran zu bleiben, sagt er dem Arzt: „Ja, aber man kann sich schämen, wenn man ganz allein glücklich ist.“ (A, Camus, Die Pest, übers. v. U. Aumüller, Reinbek bei Hamburg 1998, S. 236) und weil wir hier dieses Buch nennen, zitieren wir auch unsere erste TV-Aufnahme, in der Rupert Neudeck (1936-2016) berichtet, wie er jedem seiner Kameraden auf der Cap Anamurein Exemplar von La peste mitgebracht habe: „Die Bibel der NGOs“: > Rupert Neudeck spricht über Die Pest. Kein Wunder und das ist richtig: „Die Mündigmachung ist Rüstzeug für das Vordringen in Grenzbereiche.“ (Poschardt, S. 251).

Die Vorgeschichte: Poschardt erinnert selber an Sokrates (469 v. Chr. in – 399 v) und dessen Nachdenklichkeit, wie an Xenophanes (geb. um 580/570 v. Chr), der schon das „trügerische Wissen“ benannte und an René Descartes (1556-1650) mit seiner Abhandlung über die Methode seine Leser lehrte, einen einmal eingeschlagenen Weg geradeaus weiterzugehen. (S. 246).

Die Mündigkeit, so wie Poschardt sie uns vorstellen will, ist heute in Gefahr, weil immer mehr Umstände nicht nur in technologischer Hinsicht, uns Entscheidungen abnehmen oder bestimmte Verhaltensweisen suggerieren wollen. Recht hat er. Betrachten wir nur Facebook, eigentlich ist nichts auf der Seite, was wir uns wirklich angucken wollen, alles sind Infos und Anzeigen, die unsere Aufmerksamkeit vereinnahmen, das bisschen, was wir an Antworten auf unsere Beiträge dort bekommen, ist sehr teuer erkauft. Der Einzelne spielt in FB keine Rolle, nur die Masse der Klickraten verschafft FB seinen Gewinn. Nach Martin Heidegger (1989-1976) die „Herrschaft des Gestells“: ders., Die Frage nach der Technik, in: ders., Vorträge und Aufsätze, Pfullingen, 6. Auflage 1990, S.. 9-38. Und Poschardt ist überzeugt, dass die „Fundamente des Mündigseins still und leise erodieren“. (S. 12)

Fassen wir die Definition von Mündigkeit zusammen: Sie ist „Selbstverantwortung im existenziellen Sinne“ (S. 16), eine Grundbedingung für unser Dasein. Sie hat auch ein „kulturelles Anliegen“ (S. 17), man muss ja nicht alles mitmachen. Mündigkeit beinhaltet auch eine Fähigkeit zur Ironie (S. 18), Abstand nach François Jullien, und Mut, die eigene Entwicklung voranzutreiben (S. 24). Wird Mündigkeit ernstgenommen, zögert Poschardt nicht, sie als Kampf (S. 27) und auch als Rebellion (S. 73) zu betrachten.  Kein Wunder, dass es in diesen Buch heißt: „Der mündige Intellektuelle verachtet Ideologien.“ S. 31. 

Ulf Poschardt
> 911
1. Aufl. 2019, 294 Seiten, broschiert, durchgehend illustriert
ISBN: 978-3-608-96405-9
> Lesebericht: Ulf Poschardt, 911 – 11. März 2019

Dafür ist seine Kritikfähigkeit (S. 45) eine Voraussetzung, wobei aber die neue Ideologie der technischen Entwicklung „Fortschritt, Wachstum und ewige Beschleunigung“ (S. 139) kappt und auf Risikominimierung setzt. Assistenzsysteme aller Art sollen dem Autofahrer das Denken abnehmen, von Physik muss er nichts mehr wissen, es piept ja genug und ständig in seinem Auto. Poschardt hat für die Gegner der  Mündigkeit klare Worte und weiß, wer sich am besten wehren kann: „Der Staat als Entmündiger findet den Liberalen auf den Barrikaden.“(S. 153)

Unsere Redaktion hat schon die Fragen im Sinn, die wir dem Autor bald stellen werden.  In politischer Hinsicht entwickelt Poschardt mit seiner Kritik an der Entmündigung ein Schema, dass er auch auf die Linken mit ihren „Fürsorgemaschinerien“ (S. 175) anwendet. Damit dürfte jeder einverstanden sein: „Mündigkeit kennt kein Geschlecht. Sie ist eine universalistische Idee von Humanität und Fortschritt,“ (S. 189) obwohl sie im Verlauf der letzten Jahre das Geschlecht gewechselt habe (S. 192), erklärt Poschardt mit Blick auf die Popkultur. Interessant wie der Autor seine Überlegungen zur Mündigkeit an den Auftritten von Greta Thunberg und > Luisa Neubauer verifiziert. Sie klären auf, auch wenn er von ihrer Methode nicht überzeugt ist und prägt für Thunberg den Begriff der „Mündigkeitsschubumkehr“ (S. 214)

https://www.klett-cotta.de/media/1/thumbnails/9783608502268.jpg.27266.jpgUlf Poschardt
> DJ Culture
Diskjockeys und Popkultur

1. Aufl. 2015, 559 Seiten, gebunden, mit einem Nachwort von DJ Westbam
ISBN: 978-3-608-50226-8

Die wunderbaren Seiten über die Musikkultur von Punk, über Pop, Hip-Hop, Black Metal und Rap bis Ufo316, (S. 232-238) gipfeln in der Feststellung : „Die Kunst ist wie die Marktwirtschaft ein Motor des Fortschritts,“ weil Differenz ihr „hochoktaniger Treibstoff“ ist. (S. 239) Mündigkeit und Kunst bedingen sich einander so wie Kunst die Freiheit herausfordert: H.W.  >Aesthetics in Sartre and Camus. The Challenge of Freedom. Unsere Redaktion freut sich darauf, mit Ulf Poschardt über das Verhältnis auch von Politik und Kultur zu sprechen. Treibt die Kunst bei uns die Politik genug an, oder eröffnet diese nur ihre Ausstellungen?

Mündigkeit ist der Aufklärung verpflichtet (S. 245). Aber es gibt auch den Zweifel, der Abstand zu sich selber, das Nachdenken, wenn Sisyphos den Berg hinuntergeht und über das ganze Ausmaß seines Unglücks nachdenkt, dann aber doch immer von neuem wild entschlossen den schweren Felsbrocken wieder nach oben rollt. Camus schreibt am Ende dieses Buches, wir müssten uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen aber der vorletzte Satz ist noch wichtiger: „Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen.“ (A. Camus, Der Mythos des Siysyphos, übers. v. V. v. Wroblewsky, Reinbek b. Hamburg 2000, S. 160)

So, und nun können wir das Nachwort von Peter Unfried lesen. Er ist keineswegs mit allem einverstanden was Ulf Poschardt scheibt, aber die Stichworte, die Unfried zu > Mündig liefert „eine individuelle Emanzipationsbewegung“, „Ungebundenheit, Abbau der Denkregulierungen“, „die Chance, sich selbst mündig zu machen und handlungsfähig und damit eine andere Welt zu schaffen“ (S. 260) und „die Grundlagen dafür zu schaffen, den vorpolitischen Denkraum neu zu vermessen, um eine Diskurskultur herzustellen“, und „Spielräume maximal ausreizen“ (S. 261) bestätigen im wesentlichen das von Poschardt Gesagte. Das macht Lust auf Mehr.

Jetzt die Kurz-Zusammenfassung: Diese neue Mündigkeit ist heute notwendiger denn je, denn nur mit ihr kann den Versuchungen, den politischen oder den sozialen Verstand aufzugeben, begegnet werden. Treten wir den > Populisten noch entschiedener entgegen, besonders wenn diese sich mit ihren Parolen als Vertreter des Volkes gerieren: Jean-Luc Mélenchon nennt seinen Blog „L’Ère du peuple / Der Zorn des Volkes.“ Simple Lösungen für komplexe Probleme, so wie die „Werteunion“ uns weismachen will, dass der Klimawandel von der Sonne herrührt. Aber das sind nur Scharmützel, Poschardt hat weit mehr im Sinn: Er stellt sich eine neue Form politischer Teilhabe   und Beteiligung in Unternehmen vor, die von dem Einzelnen mehr Zivilcourage, mehr Mut und mehr Einsatz verlangen. Ist das eine Überforderung für alle, wie auf der U4 gefragt wird? Nein, denn die Überforderung ergibt sich nur aus der Masse der Aufgaben, die alle glauben durchzuführen zu müssen. Gibt man Ihnen aber den Freiraum für ihre Mündigkeit zurück, sichert ihre Verantwortung von neuem, stärkt ihre Selbstbestimmung, müssen sie nicht länger nur ein Rädchen sein, sondern gestalten ihr Umfeld selbstverantwortlich mit.

Ulf Poschardt
> Mündig
1. Aufl. 2020, 271 Seiten, gebunden
ISBN: 978-3-608-98244-2