Lesebericht: Arno Gruen, Wider den Gehorsam

Dieses Buch müssen Sie ständig mitführen, solange bis alle um Sie herum gefragt haben, wo haben Sie denn das her?

> Arno Gruen hat einen bemerkenswerten Essay verfasst: > Wider den Gehorsam: „Die Angst ungehorsam zu sein, führt dazu, sich dem Unterdrücker unterzuordnen,“ (S. 9) so lautet der Schlüsselsatz im Prolog, der die Idee zu diesem Buch in einem markanten Satz zusammenfasst. Gruen ist ein Aufklärer: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ schrieb Kant 1784 und Pico della Mirandola (1463–1494) ließ Gott nichts Anderes sagen: > De hominis dignitate / Über die Würde des Menschen (posthum 1496, Übertragung: D. Becker): «Dir, Adam, habe ich keinen bestimmten Ort, kein eigenes Aussehen und keinen besonderen Vorzug verliehen, damit du den Ort, das Aussehen und die Vorzüge, die du dir wünschest, nach eigenem Beschluss und Ratschlag dir erwirbst. Die begrenzte Natur der anderen ist in Gesetzen enthalten, die ich vorgeschrieben habe. Von keinen Schranken eingeengt sollst du deine eigene Natur selbst bestimmen nach deinem Willen, dessen Macht ich dir überlassen habe. Ich stellte dich in die Mitte der Welt, damit du von dort aus alles, was ringsum ist, besser überschaust. Ich erschuf dich weder himmlisch noch irdisch, weder sterblich noch unsterblich, damit du als dein eigener, gleichsam freier, unumschränkter Baumeister dich selbst in der von dir gewählten Form aufbaust und gestaltest. Du kannst nach unten in den Tierwesen entarten; du kannst nach oben, deinem eigenen Willen folgend, im Göttlichen neu erstehen.»

Gruen erinnnert daran, dass das Bedürfnis nach Gehorsam ein „grundlegender Aspekt unserer Kultur ist“ (S. 10). Die Furcht vor dem Ungehorsam begleitet uns schon in der Kindheit. Und Gruens Essays passt irgendwie auf alle Biographien seiner Leser. Macht entsteht durch die Angst, nicht wohlzutun. Ob das eine der Erklärungen ist, wie es zu dem Desaster des Dritten Reichs kommen konnte? vgl. S. 14 f., S. 31 ff., S. 39 ff. S. 69 Der terrorisierte Mensch hat eine Tendenz, sich mit seinem Peiniger zu identifizieren, in der Hoffnung sich selber retten zu können, schreibt Gruen auf S. 16. In der Kindheit ist das schon angelegt und äußert sich in der Angst davor, der Erzieher könne verstimmt sein.


„Die Vielfalt bei Klett-Cotta erstaunt mich immer wieder, und sie treibt diesen Blog am besten an. Kaum war ich mit der Lektüre des Romans von Jonathan Littell fertig, kam die Biographie über > Arno Gruen. Jenseits des Wahnsinns der Normalität dran. Sie lag auf meinem Bücherlesestapel ganz oben – …“ Weiterlesen
Monika Schiffer
> Arno Gruen. Jenseits des Wahnsinns der Normalität – Biografie
ca. 50 sw-Abbildungen
180 S., ISBN: 978-3-608-94449-5


Demokratie stärken, so lautet Gruens These, heißt die Umstände und die Gründe für „kritiklosen, blinden Gehorsam“ (S. 21) offenzulegen. Kindererziehung soll zur Selbständigkeit führen. Beobachten Sie Mütter und Väter z. B. im Zug oder in der S-Bahn, wie viele Hinweise, Verbote, Ermahnungen, Aufforderungen etc. muss sich der Nachwuchs ständig anhören. Was sagte noch > Jean-Jaques Rousseau? Der erste Satz seines Romans Émile ou de l’éducation lautet: „Tout est bien, sortant des mains de l’Auteur des choses ; tout dégénère entre les mains de l’homme.“ Er wollte, dass man den Zögling beobachtet und den „Émile“ liest, um daraus Schlüsse zu ziehen: „Man müsste, um ihn zu beurteilen, ihn ganz geformt sehen, man sollte seine Neigungen beobachten, seine Fortschritte sehen und seinem Gang folgen, in einem Wort, man sollte den einfachen Menschen in ihm erkennen. Man wird einige Schritte in diese Richtung tun, wenn man diese Schrift gelesen haben wird.“ „Il faudroit, pour en juger, le voir tout formé ; il faudroit avoir observé ses penchants, vu ses progrès, suivi sa marche ; il faudroit, en un mot, connaître l’homme naturel. Je crois qu’on aura fait quelques pas dans ces recherches après avoir lu cet écrit.“ Rousseau möchte seinen Zögling zur Selbständigkeit erziehen.

Was ist aber, wenn der Erzieher diese Selbständigkeit nicht im Auge hat?

Wie kommt es zu dem Kadavergehorsam? Das Sein der Eltern zum Eigenen machen, ist eine Tendenz, die Gruen mit der Erinnerung an Klaus Barbie, „der Gestapo-Schlächter von Lyon“ illustriert. Beim Verhör hatte Barbie gesagt: „Als ich Jean Moulin vernahm, hatte ich das Gefühl, dass er ich selber war.“ (S. 40) Der Schlächter tut das Unheil seinem verworfenen Selbst an, erklärt Gruen und meint damit der Feind im Anderen ist in uns selber. (vgl. S. 40) Es ist der Selbstwertlust des Kindes, den Gruen anklagt. (S. 44) Hass und Unterdrückung werden nicht gegen den Unterdrücker gerichtet, sondern an Andere weitergegeben. Ein Hinweis darauf, wie Macht funktioniert. Es ist nicht einfach, autonom, eigenständig authentisch (vgl. S. 48) zu werden.

Finden wir aus diesem Gehorsam? Wie kann die Anpassung überwunden werden? Schon 1932 beschrieb Ferenczi die Umwidmung von Angst und Terror in eine Scheingeborgenheit (S. 69) Geschichte erinnert immer wieder an die Taten der Großen, und wie Menschen die Verantwortung für sich selbst aufgeben verlieren oder sie ihnen einfach genommen wird: „Der Verlust des Selbst steht in einem engen Zusammenhang mit unseren politischen und gesellschaftlichen Problemen,“ lautet Gruens Fazit.

Wie oft und überall finden wir Situationen, in denen uns Meinung und Handlungen vorgeschrieben werden, die wir wider besseres Wissen nur ausführen, weil wir zu bequem sind, Konflikte auszutragen, unsere Meinung wohlbegründet zu artikulieren.

Empathie gibt es auch in der Politik und Gruen erinnert an Abraham Lincoln, Franklin D. Roosevelt, Willy Brandt oder Olaf Palme. > Riace ist die reale Utopie, die Gruen im Auge hat.

Haben Sie das Buch schon? Passt in jedes Notizbuch. Sollte immer wieder mal auf dem Tisch liegen, Anlässe es als Programm vorzuzeigen oder es einfach nur sehen zu lassen, gibt es ständig.

> Arno Gruen
> Wider den Gehorsam
3. Aufl. 2014, 97 Seiten, Klappenbroschur
ISBN: 978-3-608-94891-2