Von Hermann Stresau (1894-1964) sind gerade seine Tagebücher Von den Nazis trennt mich eine Welt erschienen.
Hermann Stresau stammt aus Milwaukee und verbrachte schon seine Jugend in Frankfurt am Main. Nach seinem Germanistik-Studium war er von 1929 bis 1933 als städtischer Bibliothekar in Berlin tätig. Die Nationalsozialisten entließen ihn , aber er konnte als Schriftsteller, Lektor, Kritiker und Übersetzer weiterhin publizistisch tätig sein und wurde später zu einem wichtigen Intellektuellen der Nachkriegszeit. Er war Mitgliedschaft in der Akademie für Sprache und Dichtung und Ehrenpräsident des Schriftstellerverbandes Niedersachsen.
Seine Aufzeichnungen sind, wie der Untertitel angibt, „Tagebücher aus der inneren Emigration 1933-1939“. Er wurde 1933 sehr schnell aus der Berliner Bibliothek „politischer Gründe halber“ (S. 8) entlassen. Die Situation ist mehr als ärgerlich für ihn. Er versucht über den Betriebsrt, Einspruch gegen die Kündigung einzulegen. Die Kündigung trifft ihn in einer schwierigen Zeit, weil er auch noch gerade mit seinem Hausbau beschäftigt ist, der, und das wird ihm jetzt klar, unter den gegenwärtigen Umständen nicht fertig werden wird. Nicht nur die Bauarbeiter lassen ihn im Stich, auch das Verhalten seiner Kollegen und seines Chefs Dr. Wieser enttäuscht ihn. Er erlebt die ganze Bandbreite ihres niederträchtigen Verhaltens und protokolliert in den nächsten Monaten die Einrichtung der Diktatur in Deutschland, fragt immer wieder nach den Umständen, wie sie möglich wurde und kommt dabei zu bemerkenswerten Einsichten, die seinen Tagebüchern auch eine für uns heute ungebrochene Aktualität verleihen.
Schon deutet er die Kraft der Faked News an, ohne diesen Begriff zu verwenden: „Ich sagte in Dr. Wiesers Gegenwart zu Schöningh: wenn jemand aus Übelwollen hingeht und von Ihnen etwas behauptet, was ihnen das Genick brechen kann, so ist es ganz gleichgültig, ob es wahr ist oder nicht.“ (S. 18)
Er findet zunächst eine Beschäftigung in der Bibliotheksschule, muss sich aber bald mit seinen Tantiemen aus seinen publizistischen Tätigkeiten begnügen.
Ohne Umschweife entlarvt er den Totalitarismus der Naziherrschaft, die Unterdrückung jeder Opposition mache aus ihrer Herrschaft eine Despotie. (Vgl. S. 71) Auch nach 1933 verändert er sein Haltung zu den Nazis nicht: „Von den Nazis trennt mich eine Welt.“ (S. 86)
Im August 1933 stellt er seinen früheren Chef Dr. Wiesner zur Rede und fragt ihn, warum dieser ihn als „Nationalbolschewik“ bezeichnet habe, Wiesner zuckt mit den Schultern, das Gespräch ist zu Ende. (S. 96) Im gleichen Monat notiert Stresau, der Kreis der Menschen, zu denen wir innerlich gehören, werdr immer kleiner. (vgl. S. 105). Manchmal fast ungläubig angesichts der desolaten Entwicklung sucht er immer wieder nach Gründen für diese Umstände und stellt bei vielen, die mitlaufen ein „unbewußte(s) Sich-Drücken vor dem Schicksal“ (S. 123) fest. Im Zusammenhang mit der „völlig überflüssigen Maßnahmen, wie Juden-Diffamierung“ (S. 138) fragt Stresau, will man uns eigentlich in den Krieg treiben?“ (ib.) Und er hält auch Deutungen bereit: „Dabei ist jener naive Glaube, der sich nicht vorstellen kann, daß Machthaber irren oder lügen könnten, mit die mächtigste Stütze. Man sieht mit Staunen, wie vielen Menschen es angenehm ist, wenn sie nicht nachzudenken brauchen und ein anderer die Verantwortung übernimmt.“ (S. 143, vgl. auch S. 144) Und er beobachtet seine Mitmenschen wie Dr. Richter, der von einem Muttersöhnchen zu einem „beinahe zynische(n) Landsknecht mutiert.“
Es ist diese Beobachtung der nicht nur schleichenden Veränderungen, das Lesen der Vorzeichen der nahenden Katastrophe, die genauso total sein wird, wie das Regime totalitär sich gibt, natürlich ohne es zu sagen. Es handelt sich um eine Tyrannei, die als geschichtliches Phänomen zu bekannt sei, dass man sich darüber wundern müsste: „Zu verwundern ist nur, daß es so wenigen zu Bewußtsein kommt, außer den Machthabern selbst, die in dieser Beziehung wohl sehr genau wissen, was sie wollen.“ (S. 171) Der Vorwurf ist eindeutig, das Regime handelt mit Vorsatz.
Erscheint am 20.10.2021:
Hermann Stresau
Als lebe man nur unter Vorbehalt
Tagebücher aus den Kriegsjahren 1939-1945
Hrsg. von Peter Graf und Ulrich Faure
1. Aufl. 2021, 592 Seiten, Gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-608-98472-9
Stresaus Tagebuch berichtet klar und eindeutig, wie die Einrichtung der Diktatur sich mit jedem Tag festigt, auch getrieben von denjenigen, die ihr Fähnchen nach dem Wind hängen. Und die Widersprüche bleiben ihm nicht verborgen: „Begeisterungsstürme, sobald die Massen auftreten, und überall dumpfe Hoffnungslosigkeit oder Wut.“ (S. 188) Folglich fragt er, wo stecken eigentlich die vielen Anhänger? (vgl. ib.) Ablehnung, Masse und Macht sind die Stichworte für diese Überlegungen, mit denen Stresau der Psychologie der verführten Massen, diesem Phänomen auch der Zweifler,gerne zur Mehrheit zählen zu wollen stets etwas näherkommt. Kurz und bündig: „Die Herrschaft Hitlers ist nicht mehr allein eine Herrschaft Hitlers.“ (S. 198, vgl. dazu S. 198-214). Biedere Leute heißt es im Januar 1936: „…aber in der Masse, in diesen wie von geschmacklosen Zirkusdirektoren erfundenen Uniformen sahen sie wie Räuber aus.“ (S. 241)
Die vielen publizistischen Beiträge Stresaus erwähnen wir hier nicht im Einzelnen, aber es ist offenkundig die Beschäftigung mit der Literatur, die ihn in seinen Durchhaltewillen stärkt. Viele ihrer Themen werden für ihn ganz selbstverständlich zu einer Richtschnur.
Und die Opposition ist latent und Stresau meint, sie habe kein Ventil mehr, also werde sie zu einer Gefahr für sich selbst: vgl. S. 259. Beobachtungen wie diese zeigen, wie der Tagebuchautor, Deutungen, wie dieses verbrecherische Regime entstehen konnte, immer näher kommt.
Die Besetzung Österreichs und die Perspektiven wachsender Kriegsgefahr lässt Stresau nach weiteren Erklärungen suchen: „Unter den Gegnern des Nasolismus sind manche, ich glaube sogar: viele, die ihm nur deshalb gram sind, weil sie ihre Geltung und ihren Posten verloren haben oder weil sie auch gegen berechtigte Einschränkungen ihrer persönlichen Freiheit eine unüberwindliche Abneigung haben.“ (S. 319) und „Für die meisten ist der Staat tatsächlich nichts als eine Anstalt zur Versorgung und Sicherung ihrer Bedürfnisse, und wenn es damit nicht klappt, schimpfen sie über ihn.“ (S. 319)
„Hitler ist die ungereimteste Figur der Weltgeschichte, tief verworrenes Wesen. ich gewinne den deutlichste Eindruck aus seinen Reden, die man hören, nicht lesen muss.“ (S. 341 f., vgl. im Folgenden S. 342-245) Und Stresau deutet seine Halbwahrheiten, seine „suggestive Augenblicks-Kraft, seine sprachlichen Marotten, den „unbestimmten Artikel hinter das Subjekt zu setzen“ ( „diese Leistung ist eine gewaltige“). Hitler „macht den Eindruck eines sehr komplizierten , widerspruchsvollen, verworrenen Charakters, außerordentliche Energie und Willenskraft bei pathologisch labilem Innenleben.“ (S. 343) Und wieder kommt Stresau am 28.5.1939 auf das „Motiv der Massen“ zurück, „das ’sozialistische‘ Motiv des Kollektivgeistes, der Mechanik der Vergesellschaftung, des Terrors, den das Kollektiv auf die Einzelperson auszuüben imstande ist.“ (S. 357). und „Eben das, was seine absolute Macht begründet, ist die Quelle seines Verhängnisses.“ (S. 358)
Hermann Stresau,
Von den Nazis trennt mich eine Welt
Tagebücher aus der inneren Emigration 1933-1939
Hrsg. von Peter Graf und Ulrich Faure
1. Aufl. 2021, 448 Seiten, Gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-608-98329-6