Lesebericht: Rainer Hermann, Die Achse des Scheiterns. Wie sich die arabischen Staaten zugrunde richten

Unsere Probleme in Europa: Klima, Sicherheit, Digitale Transformation und die Covid-Krise beherrschen unsere Schlagzeilen, dazu kommt noch die Migration, die ebenfalls die Europäische Union vor große Herausforderungen stellt. Aber vergessen wir nicht den Blick in den Nahen Osten, an den Rainer Hermann, der in der politischen Redaktion der FAZ dort vor allem für die Türkei und den Nahen Osten zuständig ist, mit so großem Nachdruck erinnert: Der Untertitel Wie sich die arabischen Staaten zugrunde richten seines Buches > Die Achse des Scheiterns, das jüngst bei Klett-Cotta erschienen ist, warnt vor der drohenden Implosion der arabischen Welt, die in der Tat eine großen Herausforderung der Zukunft auch für Europa ist.

Und es geht immer wieder um den stets schwelenden Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern, (vgl. S. 40 f.) der von den Konfliktparteien nicht geregelt werden kann, ebenso wenig von allen Akteuren, die ihre Vermittlung anbieten.

Überall in der arabischen Welt stehen die Zeichen auf Sturm. Der „Arabische Frühling“ ist wohl gescheitert. Bevölkerungsexplosion, „chronisch schlechte Regierungsführungen, endemische Korruption, das Fehlen öffentlicher Dienstleistungen“: Hermanns Urteil ist düster: „Ein Prozess des Zerfalls hat die arabische Welt erfasst.“ Und da, wo Reformen im Ansatz gelingen wie in Tunesien, gebe es zu viele Akteure, die den Versuch einer Verständigung zwischen Säkularen und Islamisten untergraben.

Und dazu kommen globale Veränderungen, wie u.a. die Halbierung des Erdölbedarfs, neue Akteure wie Russland oder die Türkei, das erneute Engagement Frankreichs in Nordafrika oder die Sahelzone, die sich zum Kernland des Dschihad entwickle. Hermann berichtet, dass die Eliten in der arabischen Welt wohl kein Interesse haben, sich mit der Demokratie zu abzufinden und am Nepotismus festhalten. Keine guten Voraussetzungen für die Zukunft: „Die Frage ist, wie große das nächste Beben sein muss, damit die Konstruktionen endgültig zusammenbrechen.“ (S. 18) Hermann glaubt, dass der überfällige Prozess der Neuordnung wohl erst nach einem sehr schmerzlichen Prozess einsetzen könnte.

Die Ursachen dieser fatalen Entwicklung liegen für Hermann im Ende der Kolonialzeit, in der damals die Weichen falsch gestellt wurden. (vgl. S. 19) Statt den Staaten zu dienen, erzeugen die Armeen überall nur Instabilität. Und Hermann sieht überall in der arabischen Welt nur Machthaber, die den Blick für die Wirklichkeit und die Fähigkeit zu handeln verloren haben. (vgl. S. 22) Reformen würden erst einsetzen, wenn die Not größer sei als die allgemein verbreitete Angst. Dann aber folgt ein Schlüsselsatz: „Zumindest der Geist des Wandels aber ist aus der Flasche.“ (S. 27) Sind Anzeichen des Wandels doch schon erkennbar?

Hermann kann mit dem Schatz seiner Erfahrung sehr genau beobachten und beschreibt, wie Demonstranten dazulernen, aber die Regime dies nicht können und so Möglichkeiten zur Erneuerung  verlieren. Werde die Covid-19-Pandemie diesen überfälligen Wandel vorantreiben? Aber wie auch in anderen Teilen der Welt überlagert die Pandemie die Probleme des Klimawandels: „Covid-19 ist ein humanitärer Zünder, der die Stabilität der Regime bedroht, der Klimawandel ein ökologischer.“ (S. 39)

In diesem Sinne ist der Band von Rainer Hermann keinesfalls nur eine kluge Bestandsaufnahme, denn er listet akribisch die Bedingungsfaktoren auf, die den Wandel in arabischen Staaten anstoßen werden. Das Pulverfass der arabischen Welt werde früher oder später ex- bzw. implodieren, so kann man seine  Ausführungen zusammenfassen, fragt sich nur welche Lunte es zuerst erreichen wird. Und  es ist das Gemisch aus der engen Verzahnung von Religion und Politik, Intoleranz, Korruption und Diktatur, die die Zündfunken lodern lassen.

Betrachtet man alle Probleme des nahen Ostens, so würde sein Zusammenbruch, ein „Horrorszenario“ für Europa (S. 46) bedeuten. Muss man daraus folgern, dass es ein europäisches Interesse gibt, den Status quo zu erhalten oder seine Lösung zu verzögern? Unsere Redaktion freut sich auf ein Gespräch mit Rainer Hermann.

Es sind die lokalen Szenarien, Ägypten, Saudi-Arabien, Algerien, Syrien Irak, Libanon, um nur einige zu nennen, die Herman so genau en détail kennt, und woraus er die Faktoren ableiten kann, die den Wandel hemmen, aber in ihrer Summe zugleich auch in irgendeiner Form anstoßen werden. Dazu kommen die „Begierden externer Akteure“ wie die USA, Russland, China und die Türkei. Es ist offenkundig, dass der nahe Osten von  Europa als eine „Dekadenaufgabe“ begriffen werden muss.

Betrachtet man die Summe aller Faktoren, die den Wandel hemmen und fördern werden, so muss die EU aus dieser Gemengelage versuchen, ihre Haltung zur arabischen Welt so zu formulieren, dass sie auch gegenüber und mit den Akteuren einen Einfluss im Nahen Osten bewahren kann, um sich nicht blind den Gefahren seiner Implosion auszusetzen.

Rainer Hermann
> Die Achse des Scheiterns
Wie sich die arabischen Staaten zugrunde richten
1. Aufl. 2021, 304 Seiten, Broschiert
ISBN: 978-3-608-98450-7