Lesebericht: Svenja Flaßpöhler, Sensibel. Über moderne Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren

Ergänzt: Gerade ist der Band >  Sensibel mit dem Untertitel „Über moderne Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren der Philosophin Svenja Flaßpöhler, der Chefredakteur des Philosophie Magazins, erschienen.

Es geht um Sensibilität als eine zivilisatorische Errungenschaft und folglich legt Flaßpöhler auch eine Ideengeschichte wie auch eine Literaturgeschichte vor, mit der die grundlegenden Ideen von David Hume, über Jean-Jacques Rousseau bis zu Alexis de Tocqueville u. a. vorgestellt werden. Sensibilität, um eine These von Svenja Flaßpöhler aufzugreifen, ist wichtig, um benachteiligte Gruppen besser zu verstehen und Spaltungen in der Gesellschaft zu vermeiden.

„Der Riss in der Gesellschaft“, der Titel ihres ersten Abschnitts in der Einleitung erinnert an neue Verletzlichkeiten, die einen fühlen sich bedrängt, andere finden, das seien nur überzogene Empfindlichkeiten. Einmal handelt es sich um das Ergebnis immer neuer Zuschreibungen spezifischer Identitäten, aus denen dann Empfindlichkeiten entstehen, die aber auch auf gesellschaftliche Missstände hinweisen, die nur behoben werden können, wenn diese Mechanismen aufgedeckt und erklärt werden. Es geht um Abwehrkraft, also um Resilienz. Der Schlüssel dazu ist eine Sensibilisierung, die die Autorin auf vier Ebenen beschreibt: die leibliche Sensibilität, die den Abstand zum Anderen definiert, die psychische Sensibilität, eine Art seelischer Feinfühligkeit, die ethische Sensibilität, die die Empathie einschließt, so wie die ästhetische Sensibilität, die zur Unterscheidung von Schön und Hässlich führe.

Sensibilität sei progressiven und regressiven Tendenzen unterworfen, so lautet die These der Autorin. Werde ihr Verhältnis zur Widerstandskraft neu vermessen, so können „Wege aus den Krisen unserer Zeit“ aufgezeigt werden. (S. 28)

Mit Blick auf das Werk von Norbert Elias erzählt Flaßpöhler vom Ritter Johann und dem Deutschlehrer Jan (der Eindruck, als Lehrer habe er nachmittags nichts zu tun, ist aber falsch, vgl. S. 34) und zeigt mit diesen beiden Geschichten welche Fortschritte die Zivilisation gemacht hat und erklärt mit > Richard Sennett, wie mittlerweile Gefühle immer mehr unsere Handlungen bestimmen.

Flaßpöhler nennt viele Beispiel aus der Literatur: Clarissa (1748/49) von Samuel Richardson oder David Humes Traktat über die menschliche Natur (1734), in der der Philosoph das Mitfühlen erläutert, das ganze wesentlich von der Gleichheit abhängig ist, ein Gedanke, den Alexis de Tocqueville im 19. Jahrhundert In Über die Demokratie in Amerika (1835-1840) wieder aufgreifen wird. Bei Jean-Jacques Rousseau ist es die Fähigkeit mitzuleiden, die das menschliche Handeln so tief beeinflusst: sein Roman Julie erscheint 1761. Ein Jahr später folgt sein Traktat: Emile oder über die Erziehung. Auf den ersten Blick ist es erstaunlich, dass in dieser Literaturgeschichte auch der Maquis de Sade mit seinen drastischen Darstellungen und Berichten hier auch seinen Platz findet. Sade zeige, dass Empathie gar nicht mit guter Gesinnung gleichzusetzen sei: vgl. S. 90. Folgerichtig fragt Flaßpöhler mit Freud nach der Gewalt in uns: Freud hätte Jünger als Patienten bestimmt geschätzt, vg. S. 99

Vor dem Hintergrund der bisherigen vor allem historischen Ausführungen folgt ein Kapitel über Sprachsensibilität mit Hinweisen zum gendergerechten Sprechen, das sich auf den linguistic turn von Ferdinand de Saussure berufe –  sind aber auch  Meinungen zu hören, die das Gendern ablehnen > Nachgefragt: Yana Grinshpun, Le genre grammatical et l’écriture inclusive en français, um nur eine Stimme zu nennen. Jetzt kommen Jacques Derrida und Judith Butler dazu, die Handlungen mit der Sprache verbinden. vgl. S. 134-136)

Es gibt auch Grenze der Einfühlung, die von manchen Autoren auch ganz offensiv vertreten werden: > Lesebericht: Reni Eddo-Lodge, Warum ich nicht länger mit Weißen über Hautfarbe spreche. Eine der Überlegungen Flaßpöhlers in diesem Zusammenhang lautet, dass die „Subjektivität des Erlebens eines anderen … in letzter Konsequenz unzugänglich“ (S. 153) bleibt.

Je gleicher die Verhältnisse in der Gesellschaft werden, umso mehr fallen kleinste Verschiebungen auf, die Tocqueville erklärte. Mit ihm könnten, so Flaßpöhler, „Unwuchten“ im zivilisatorischen Prozess besser erkannt werden. Immerhin gilt, und das erklärt die Autorin in ihrer Zusammenfassung, dass Sensibilität und die damit einhergehende Empathie statt Fortschritt auch Regressivität und Gewalt verursachen kann.

Svenja Flaßpöhler
> Sensibel
Über moderne Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren
Stuttgart: Klett-Cotta
1. Aufl. 2021, 240 Seiten, Gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-608-98335-7