Nachgefragt: Clare Carlisle, Der Philosoph des Herzens. Das rastlose Leben des Søren Kierkegaard

„Bei Klett-Cotta ist eine Biographie über Søren Aabye Kierkegaard (1813-1855) von Clare Carlisle in der Übersetzung von Ursula Held und Sigrid Schmid erschienen: > Der Philosoph des Herzens. Der Untertitel „Das rastlose Leben des Søren Kierkegaard“ zielt auf die Umstände seines Lebens, jedoch stehen in dieser Biographie die Werke des dänischen Philosophen, ihre Entstehung und ihre Verbindungen untereinander im Vordergrund. Und der eigentliche Erfolg ihrer Biographie besteht darin, dass sie den Leser neugierig macht auf die Lektüre der Werke von SAK.“ So begann unser > Lesebericht: Clare Carlisle, Der Philosoph des Herzens. Das rastlose Leben des Søren Kierkegaard.

Heute haben wir Clare Carlisle, gemäß unseres Blogprinzips: erst der Lesebericht dann Nachgefragt…,  per Videofernübertragung in unser Homeoffice eingeladen und mit ihr über ihr Buch gesprochen:

Wir wollten von Clare Carlisle wissen, wie sie auf Søren Kierkegaard (1813-1855) gekommen ist und was sie an ihm so fasziniert. Im übrigen, und das sei hier gleich gesagt, gelingt es ihr vorzüglich, ihre Passion für Kierkegaard dem Leser in diesem Buch mitzuteilen, das ist richtig ansteckend. Im Falle Kierkegaards sind seine Schriften eng mit seiner Herkunft, seiner Familie, seiner Beziehung zu seinem Vater und vor allem mit denen verbunden, die ihn beeinflusst haben. Trägt die Biographie zu einem besseren Verständnis seines Werkes bei?

Sein gesamtes Werk ist  der Frage gewidmet, was der Mensch ist? Was ist der Mensch in der Welt? Hat er denn jemals eine Antwort gegeben, die ihn zufriedengestellt hat, oder war diese Suche der Kern seines Werkes?

Entweder-Oder erschien unter dem Pseudonym Victor Eremita, warum hat er so viele Pseudonyme verwendet? Wollte er sich verstecken? Wussten viele, wer sich hinter den Pseudonymen versteckte? Carlisle  beschreibt eingehend Kierkegaards Verhältnis zum Christentum.  Er stand im Widerspruch zu den modernen oder zeitgenössischen Praktiken des Christentums, was beunruhigte ihn besonders? Ihr Kapitel „Wider die Halbphilosophen“ enthält einen bemerkenswerten Einblick in Kierkegaards Werk: „Die Idee, dass jeder Mensch dieses Individuum ist, wird in seinem Werk immer deutlicher.“ (S. 60) Unter anderem ging es ihm auch um das Individuum, was eigentlich ein sehr moderner Begriff ist?

Seine Verlobung mit Regine Olsen am 10. September 1840, die er 13 Monate später löste (S. 48-52), prägte mit ihren Auswirkungen und Erinnerungen sein ganzes Leben, sie wirkten auf ihn ein, und später erkannte er, dass er sich nur durch sie in dieser Weise entwickeln konnte. Es gibt viele Essays und sogar Bücher über sein Verhältnis zu Regine…, kann  man seine Entscheidung, die Verlobung zu lösen, nachvollziehen?

Carlisle berichtet immer wieder von seinen Zweifeln, aber es waren nicht wirklich Schreibhemmungen, denn – kann man sagen – er befreite sich durch das Schreiben? – Eigentlich war Kierkegaard ein Einzelgänger, aber seine Arbeit wuchs in Kontakt und Konfrontation mit so vielen, die ihn beeindruckten, ermutigten und kritisierten: Johan Ludvig Heiberg (1791-1861) oder Hans Lassen Martensen (1808-1884) und vielen anderen.

Teil II ihrer Biographie befasst sich mit Kierkegaards Herkunft, den Erinnerungen an seinen Vater, dem Familienleben, seinen Geschwistern, dem Elternhaus am Nytorv. Warum war der Einfluss seines Vaters „wohlmeinend und zerstörerisch“ (S. 113) so entscheidend für Kierkegaards Leben?

1848 veröffentlichte er Christliche Reden, 28 Predigten, um mit Bischof Mynsters (1775-1854), den er aus seiner Jugendzeit kannte, zu konkurrieren. (vgl. S. 121) Es beginnt eine Meinungsverschiedenheit, die nie endgültig gelöst werden wird: „Ist die (d. h. die Kirche) das Haus des Herrn oder ein Haus der Illusionen?“ So interpretiert Carlisle   seine Konfrontation mit der Kirche.

Das Kapitel „Ästhetische Erziehung“ nimmt in ihrem Buch einen besonderen Platz ein, denn es erzählt, wie Kierkegaard sein Wissen und seine Methoden auf die Interpretation eines Falles, hier der Schauspielerin Johanne Luise Heiberg, anwendet. Diesem Kapitel folgt ein Bericht über den Einfluss der deutschen Romantiker auf Kierkegaard. Welches von Kierkegaards Werken sollte man noch einmal lesen, um diesen Spuren und Einflüssen in seinem Werk nachzuspüren?

Und es gibt auch eine Abgrenzung zu den zukünftigen Existentialisten: Der Mensch ist nicht vorgefertigt, aber er erschafft sich auch nicht selbst, so verstehen sie Kierkegaards Überlegungen, eigentlich ganz ähnlich wie Albert Camus sie formuliert, der Mensch stellt sich der Welt, stellt ihr Fragen, die irrational schweigt. Auf der anderen Seite hat Kierkegaard mit seinem Gesamtwerk gezeigt, wie der Mensch sich sehr wohl selbst definieren, ja sogar erschaffen kann.

Warum sollten wir Kierkegaard heute wiederentdecken?

Clare Carlisle
> Der Philosoph des Herzens.
„Das rastlose Leben des Søren Kierkegaard“
Aus dem Englischen von Ursula Held und Sigrid Schmid (Orig: Philosopher of the Heart/The Restless Life of Soren Kierkegaard)
1. Aufl. 2020, 464 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, mit zahlreichen Abbildungen
ISBN: 978-3-608-98224-4