Das Juliheft beginnt mit einem politischen Zustandsbericht, einer Art Momentaufnahme, die zur Zeit von der »Physikerin« Angela Merkel geprägt wird. Konsens und Kompromisse versuchen stets und ständig das Gleichgewicht zwischen Politik und Wirtschaft zu wahren, das schon immer ein Kennzeichen der Bundesrepublik gewesen ist. Dazu gehört das Aussitzen oder Abwarten und der mit der politischen Topographie in Berlin verbundene Transparenzverlust. In Bonn war alles fußläufig erreichbar, klein und überschaulich, die Politik konnte sich dort schon dem einfachen Nachfragen nie oder nur selten entziehen. In Berlin wird alles opak, man weiß nicht mehr so recht, wieso das alles so passiert. Die politische Mitte hat sich eingerichtet, und möchte auch eigentlich gar nicht so sehr gestört werden. Das Dauerprojekt heißt „eigene Machterhaltung“ – vgl S. 573. Demokratischer Beteiligungsschwund und gesellschaftliche Desintegration (S. 574) sind weitere Stichwörter: „Zum Stil Merkels, zum Stil der deutschen Politik insgesamt gehörte immer auch die gezielt eingesetzte Lethargie, die unschöne Konfliktlösung durch Aussitzen und Verharren, die Entmutigung des Kontrahenten durch den starren Basiliskenblick, die Erschöpfung vor den verschlossenen Toren der Burg.“ Und dabei hat die Kanzlerin gar nicht so unrecht, wenn sie vor einer Vergemeinschaftung der Schulden in Europa so beharrlich warnt. Nur sie müsste noch deutlicher werden. Diese Vergemeinschaftung wäre eine Umgehung oder eine Festschreibung des Übels, das > David Graeber in seinem Buch über die Schulden am liebsten abschaffen würde. Bundespräsident Gauck hat Recht, wenn er mehr Erklärungen von der Kanzlerin fordert.
Thomas E. Schmidt, > Die Physikerin. Über die Langeweile in der deutschen Politik – Gratis lesen.
Aufgeschreckt, wird das politische Berlin ab und zu mal, wenn die Bürger das Parlament dabei erwischt, mal eben ein Gesetz durchgewunken zu haben, während die Bürger anderweitig beschäftigt waren und vor den Fernseher saßen, wie vielleicht auch die anderen 90 % der Abgeordneten, die bei der Abstimmung über das Meldegesetz gerade nicht anwesend waren. In Berlin ist Langeweile angesagt: Wie schrieb mir eine Abegordnete einmal zur Parlamentsleere, gar nicht entschuldigend, das sei ein Arbeitsparlament. Das mit der Langeweile stimmt nicht ganz: „In Wahrheit erbebt das deutsche Dornröschenschloss doch längst.“ (S. 272) Schuldenkrise, Europa, parlamentarische Demokratie und die künftige Gestaltung der Marktwirtschaft! Alles steht im Augenblick zusammen auf dem Spiel, ein Gipfel jagt den nächsten und in Deutschland dreht sich weiterhin alles um den „Ökonomismus“ (s. 575). Eine richtige Trennung von Wirtschaft mit ihren Subsystemen und dem Staat gibt es bei uns nicht; das ist in Frankreich ganz anders. Sonst könnte der Staat echte Sparziele vorgeben, anstatt weiterhin von der Wirtschaft getrieben immer neue Schuldenberge anzuhäufen. Nach den Abstimmungen im Bundestag wissen bestimmt nicht viele Abgeordnete, wie hoch die Summen sind, die gerade wieder freigegeben wurden. Zugleich ist die enge Verbindung von Wirtschaft und Politik „eine enorm realitätsbildende Kraft“ (S. 577), die uns aber und besonders das opake Berlin in eine Traumwelt versinken läßt. (vgl. S. 579).
Karl-Heinz Kohl wundert sich über Seltsames in der Deklaration der Vereinten Nationen: Das Recht der Indigenen. Karl Heinz Götze erinnert in Tübinger Frakturen. Der liebe Herr Jesus und ein Massenmörder aus Schaben an Dr. Spiegelberg, seine Untaten und seine so unverdiente Wiedereingliederung.
Marc Schweska hat ein Gedicht „Grau“ verfasst und sogleich einen Essay über diese Farbe angehängt. In seiner Politikkolumne untersucht Philip Manow, welche Rolle dem Wahlkampf im demokratischen Prozess zukommt. Jürgen Osterhammel wünscht sich mit guten Gründen eine Öffnung der Zeithorizonte in der Geschichtswissenschaft. Jörn Etzold rezensiert ein neues Buch über die Situationisten stellt vor und porträtiert dessen Autor McKenzie Wark.
Alan Jacobs begleitet den britischen Schriftsteller Iain Sinclair auf dessen Wanderungen durch London. Peter Uwe Hohendahl bespricht die Strategiestudie Zbigniew Brzezinskis aus der Perspektive der Vereinigten Staaten gen Osten und Westen. Guy Sormans untersucht das Potential sozialer Netzwerken für Rebellionen. und schließlich machen sich Hansjörg Küster, Wolfram Nitsch und Rasmus Althaus Gedanken über die Bezüge zwischen der Stadt und der Landschaft.
Alles Themen, die auf einfache Weise anschaulich erklären, wieso das monatliche Lesen des MERKUR immer etwas Besonderes ist.
> MEKRUR Heft 07 / Juli 2012