Merkur – Februar 2011

Das neue Heft des Merkurs für den Monat Februar ist angekommen. Diesmal geht es um Gewalt. Ein Thema mit viel Angst, Ohnmacht und nur allzu verständlicher Aufregung. Aber die Autoren versuchen der Gewalt ins Auge zu sehen. Wie kommt es zu Gewaltausbrüchen? Kann man die Ursachen, die bei jedem Vorgang immer so unterschiedlich sind, fassen? Auch das Unverständliche hat oft irgend eine Art von Beweggründen, auch wenn manchmal Erklärungen so hilflos erscheinen. Michael Rutschky schreibt über Krieger vom Stoßtruppführer über den Amokläufer bis zum Terroristen und versucht, ihre Motivation zu verstehen. Auch Aiman-al Sawahiri, der der zweite Mann hinter Bin Laden sein soll, wird mit seinem Ansinnen Ägypten in einen Gottesstaat zu verwandeln: „einen Hortus conclusus radikal-religiöser Kulturkritik an allen Erscheinungsweisen westlicher Lebensart“. (S. 105) Vielleicht ist diese Sichtweise auch im Rahmen der Unterdrückung in Ägypten im Rahmen einer Diktatur und aus dieser Sicht im Vergleich mit dem Westen entstanden? Rutschky schlägt eine Erklärung vor, die mit dem Zerfall dieses „Grand Design“ (ib.) zusammenhängt. Andere Gewalttaten, wie der Überfall auf das Taj Mahal Palace hat „mit seinem Schrecken seinen Sinn in sich selbst.“ (S. 107). Karl Heinz Bohrer geht dem Skandal einer Imagination des Bösen nach und stellt seinen Rückblick auf Jonathan Littells Roman Die Wohlgesinnten, in dem ein perverser SS-Offizier die Verrohung dieser Epoche verkörpert. Horst Meier erklärt, wieso die Annahme, das Grundgesetz sei irgendwie pazifistisch, nicht stimmt. > Fortsetzung

Zu diesem Artikel passt auch der neue Band von Michael Günter, > Gewalt entsteht im Kopf, in dem es um ein Verständnis geht, wie Gewalt entsteht und wie wir sie wirksam begrenzen können. Günter fragt, was veranlasst Menschen, gewalttätig zu werden? Was sind das für Menschen, die andere zu Tode treten? und warum sind sexuelle Gewalt gegen Kinder und Vergewaltigungen so häufig?. Gewalt kann aus Leidenschaft entstehen; sie haben oft hat sie mit Rache-, Schuld- oder Schamgefühlen zu tun. Günter erläutert psychische Mechanismen, die zu Gewalt führen. In diesem Zusammenhang berücksichtigt er auch Lebenserfahrung, psychische Disposition, soziale und situative Einflussfaktoren.

Michael Günter
> Gewalt entsteht im Kopf
1. Aufl. 2011, 173 Seiten,broschiert, mit s/w-Fotos
ISBN: 978-3-608-94677-2 – Erscheinungstermin : 21. Februar 2011


Gerade eben lag in meinem Postfach auch die neue Ausgabe von > Trauma und Gewalt – Februar 2011, das diesmal als Themenheft zur Gewaltforschung hier ankommt. Vier Schwerpunkte bestimmen diese Ausgabe: Geschlechtsunterschiede in der Akzeptanz von Gewalt, Mediale Gewalt und Kriminalität, Gewaltdelinquenz und Gewaltaffinität bei jungen Menschen in verschiedenen sozialen Milieus sowie Gewalt und belastende Kindheitserlebnisse.

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„Leben machen und sterben lassen“ lautet der Titel des Beitrags von Dietmar Voss mit dem Untertitel Facetten der Bio-Macht: Er meint, das höchste Ziel aller Macht ist die Regulierung des Lebens selbst und untersucht die staatlichen Zurichtungen von Tod und Leben, chronische Therapiesucht und Vorsorgewahn. Die viele gut gemeinte Hilfe und Fürsorge, die der Staats uns Bürgern mit seinen vielen Gesundheitsgesetzen, die viel komplizierter als der Vertrag zur Deutschen Einheit sind, uns angedeihen lassen will, ist nicht geeignet die Widersprüche unseres kranken Gesundheitssystems zu erklären. Warum muss ich die professionelle Reinigung beim Zahnarzt selbst bezahlen, wobei das für die Krankenkasse die allerbeste Investition wäre? Das ist nur ein kleiner Aspekt, Voss geht viel weiter und untersucht die „Unterwerfung unter die ästhetisch-medizinischen Körpertechnologien“ (S. 117) mit allen ihren Folgen. Die Gesundheitsreform kommt erst dann auf die Zielgerade, wenn der Bürger selbst wieder in den einschlägigen Gesetzen auftaucht und der Gesetzgeber sich nicht nach den einschlägigen Interessengruppen guckt, die auf ihren Pfründen sitzen. Zu diesem Beitrag passt bestens Das Chamäleon und der Wechselbalg. Zum Verhältnis von Ökonomie und Technik – der wichtigste Beitrag in diesem Heft – von Ernst-Wilhelm Händler: „Der Mensch wüsste gerne, wer er ist und wo er ist,“ lautet sein erster Satz. Die Biowissenschaften mit ihren Ergebnissen entsprechen so gar nicht dem, was wir erwarten. Die Hirnforschung erklärt, was passiert wenn der Mensch denkt, nicht wie er denkt.“ (S. 121)“ Also, folgert Händler, wird ein Richter keinen Hirnforscher für eine Verhaltensprognose heranziehen. Es geht um nichts anderes, als die Angst des Menschen, in einer Ökonomie seine Identität zu verlieren, weil andere ihm oder Technik seine Autonomie in Frage stellen. Man kann Fingerabdrücke abnehmen und speichern, die Retina vermessen und speichern, die DNA analysieren aber den Menschen mit seinen Handlungen hat man damit noch nicht. „Der Mensch hat – bis jetzt – überlebt. Unter anderem weil er erst in einem Trial-and-error verfahren-Verfahren und dann geplant seine Umwelt für seine Zwecke eingespannt hat.“ (S. 121) Dieses Gleichgewicht zugunsten des Menschen muss auch vom Markt übersehen werden, der sehr gut das Wirtschaften aus dem Umgang mit knappen Gütern erklären kann, aber keine Prognosen für reale Situationen (vgl. S. 123 f,) der Handelnden bieten kann.

Die Ökologiekolumne von Hansjörg Küster untersucht den Begriff Heimat. Jürgen Osterhammel fragt, weshalb sind die Chinabücher des Historikers Jonathan Spence Klassiker geworden? Soegfried Kohlhammer rezensiert zwei Werke des französischen Soziologen Frédéric Martel, De la culture en Amérique, Paris: Gallimarr 2006 und Mainstream. Enquête sur cette culture qui plaît à tout le monde, Paris: Flammarion 2010. – Wo bleiben die Übersetzungen dieser Bücher?

Michael von Prollius, hat einen etwas zweideutigen Titel „Entpolitisieren als Herausforderung unserer Zeit“ für seinen Beitrag bekommen oder gewählt: Die Herausforderung besteht nicht in weniger Teilhabe am Gemeinwesen, sondern in der Rückgewinnung unserer Autonomie. Und man müsste die Politik wieder für unser Leben gewinnen. Sie sind viel zu sehr vom wirklichen Leben abgekoppelt. „Durchleuchtung unserer Bankkonten“ und „Glühbirnenverbot“ bestimmen unser Leben als Zukunftsentwurf. Die Finanzierung und Wohlstandssicherung der Interessengruppen rund um unser Krankheitssystem führt uns nur zu deutlich vor Augen, wofür wir täglich arbeiten müssen. Von Prollius darf aber nicht nur die Politiker im Blick hinsichtlich unserer Gängelei haben, die Medien tun auch das Ihre dazu, s. die FAZ, die sich heute mit einem Artikel aus der Feder von Jochen Hieber zur Recht über das öffentlich-rechtliche Fernsehen beklagt, das gestern nicht in der Lage war, über die Lage in Ägypten wirklich zeitnah zu berichten. Woran ist die Regierung und die Parteien zuerst interessiert? Am Wähler? An unserem Wohlergehen? An ihrem eigenen Einfluss? An ihrem Machterhalt? (vgl. S. 175) Und dann schreibt von Prollius: „Der historische Erfolg des Westens beruht wesentlich darauf, dass die Macht von Menschen über Menschen kontinuierlich beschränkt wurde.“ Stattdessen kam das Recht. Entpolitisieren bedeutet für von Prollius auch Entsagen. (S. 176) Der Staat müsste uns weniger gängeln. Mehr Steuerreformen. Eine Novellierung des Steuerrechts und kein Ansinnen der Regierung, der Bürger solle sich schon mal über > drei eingesparte Euros freuen. Schließlich berichtet Erik Zyber über eine „Phänomenologie des Jenseites“ Man stirbt nur zweimal, und der Abschluss Erkundungen stammt von Hans Dieter Schäfer.

Nachdem ich hier auf dem Blog schon > so oft über ein Merkur-Heft berichtet habe, darf ich meine grundsätzliche Anerkennung, dass die Herausgeber dieser Zeitschrift es verstehen, die Beiträge in jedem einzelnen Heft so hervorragend aufeinander abzustimmen, hier noch einmal mit Nachdruck wiederholen, weil dies gerade in diesem Heft so besonders gut gelungen ist.

> Merkur – Februar 2011