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„Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek“ ist ein Feuerwerk der Gefühle, die durch die Kuriosität seiner Protagonisten zu einer liebenswerten Lektüre wird, die man gar nicht weglegen möchte,“ schreit Oliver Steinhäuser unter dem Titel > Lesebericht zu “Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek” von David Whitehouse auf seinem Blog: > buchundmedienblog.com.
David Whitehouse, hat mit dem jüngst bei Tropen erschienenem Buch > Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek ein erstaunliches Buch geschrieben. Hauptperson ist Bobby Nusku mit einer unglücklichen Kindheit und schlechten Familienverhältnissen zu Hause. Er nutzt die erstbeste Gelegenheit zu einem „Ausflug“, dessen Dauer nie ein Thema ist.
Sein Freund Sunny macht mit allerlei dummen Aktionen auf sich aufmerksam und gibt vor, Bobby beschützen zu wollen. In der Nachbarschaft macht Bobby derweil Bekanntschaft mit Rosa Reed und ihrer Mutter Val(erie) Reed. Sie putzt in einem Bücherbus, den sie kurzerhand mit einer chaotischen Abfahrt entwendet, als Bobby wieder einmal dem Wüten seines Vaters gerade entkommen ist.
Bei ihrer stürmischen Abfahrt geht wegen der mangelnden Übung der Fahrerin so einiges zu Bruch. – „Man kann nie von etwas weglaufen, was man nie gehabt hat“, erklärt Sunny später der Polizei, die nach Bobby sucht. Es beginnt eine Bücherbusoddyssee durch England bis Schottland und wieder zurück. Unterwegs nehmen sie Joe mit auf, der die Gefahren nur noch verschärft. Das Ende der Geschichte steht schon am Anfang und wird am Ende präzisiert.
Um es gleich zu sagen. Bobby hat, auch wenn ihm eventuell mildernde Umstände zuzubilligen sind, einen doch miesen Charakter; die Sache mit dem Brennspiritus, das geht gar nicht. Aber er hat durchaus auch die Fähigkeit, Systematik in sein Leben zu bringen. Seine Mutter ist bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Bobby kann das nicht so recht glauben und bereitet sich auf Ihre Rückkehr vor. Akribisch sammelt er selbst kleinste Erinnerungen in seinem Archiv, dem er eine perfekt Ordnung verpasst.
Bobby pflegt nicht nur das Archiv mit den Dingen seiner Mutter, er hat auch die Angewohnheit, sich seine Umgebung mit Zahlen zu merken, wieviele Stufen, wieviele Meter von hier nach dort, zu Hause konnte er sich so perfekt im Dunkeln bewegen. Das Lesen der Romane war für Bobby immer wieder ein Anlass, sich eine neue (Land-)Karte vorzustellen, wie sollte er auch sonst z.B. John Steinbecks Roman Von Menschen und Mäusen bewältigen können? (vgl. S. 175) Ganz ähnlich geht es ihm auch bei der Lektüre von Antoine de Saint-Exupérys Der kleine Prinz, von dem er glaubte, er sei nur für ihn geschrieben, aber das glauben ja sowieso alle Leser dieser Geschichte: „Male mir einen Elefanten.“
Diese Geschichte mit dem Diebstahl des Bücherbusses enthält eine kurzgefasste Ästhetik der Literatur, auch wenn Bobby sie theoretisch nicht so recht versteht, so war ihm die praktische Auswirkung der Literatur umso klarer. Roald Dahls Matilda hatte er gelesen und glaubt nun, auch er verfüge über besonderen Gaben. Vielleicht würde es wirklich nur reichen, bloß all die Geschichten zu lesen, damit sich die Wirklichkeit ändern würde. Ganz sicher war er sich nicht, wie und was sich ändern würde, aber das Prinzip schien ihm unerschütterlich.
Im Vordergrund dieses Romans steht die Frage nach der Wirkung der Literatur. Es sind die Geschichten, die die Bücherbusleser in ihren Bann ziehen: „Lies uns was vor,“ (S. 137) sagte Bobby und reichte Val die große Ausgabe von Moby Dick. „Bücher sind das Leben“ fügt Val hinzu: „So etwas wie ein Ende gibt es nicht,“ (S. 138) und „In jedem Buch gibt es irgendeinen Hinweis auf dein eigenes Leben,“ erklärt sie Bobby, der die Reise im Bücherbus zu extensivem Lesen nutzt. „…die Geschichten sind miteinander verbunden. Du erweckst sie zum Leben, wenn du sie liest, und dann wirst du das, was darin passiert, such selbst erleben,“ (S. 73) lehrt sie Bobby ihre Vision der Literatur.
Bobby vernachlässigt sein Archiv und liest und liest: „Er wollte Teil eines Buches sein, ein Abenteuer erleben.“ (S. 74) Engagierte Literatur vermittelt nichts anderes, denn ein Autor, der über etwas schreibt, nimmt den Dingen die Unschuld, erklärte Raymond Aron einem Café seinem Freund > Jean-Paul Sartre. Benenne etwas, oder schreibe über etwas, und es hat für Dich und den Leser eine Bedeutung, es weist auf etwas hin, es obliegt dem Leser, daraus etwas zu machen. Das ist die Appelfunktion der Literatur, die Roquentin in Sartres La nausée in einem Satz zusammenfasst: Auf dem Heimweg von Bouville nach Paris stellt er sich vor, ein neues Buch zu schreiben, das so hart wie Stahl sei, und den Leuten wegen ihrer Existenz die Schamröte ins Gesicht treibt. – Literatur verändert die Wirklichkeit nicht, sie schärft unseren Blick für die Wirklichkeit, sie rückt Dinge in einen neuen Kontext, öffnet neue Perspektiven, stellt Autor und Leser ständig vor ihre eigene Verantwortung.
So ist es auch mit den Die Geschichten um und in dem Bücherbus. Sie gehen mit den in seinen Büchern aufbewahrten Geschichten ineinander über. Whitehouse zeigt ganz nebenbei, dass die, die lesen das Leben leichter meistern, er lässt Fiktion, Geschichten und Erzählungen nebeneinander- und ineinanderlaufen, so wie Sunny auch Der Eisenmann von Ted Hughes sein könnte, das Buch, das Bobby ihm zum Wiedersehen mitbringt. Beide sind die Fortsetzuung von Tom Sawyer von Mark Twain, findet Val, und Bobby flitzt in den Bücherbus und kommt mit der alten gebundenen Ausgabe zurück. Tom und Huck sind völlig frei… weil alle Leute glauben, sie seien im Fluss ertrunken…, weiß Bobby mit Bestimmheit zu sagen. Val dachte an ihren Bus und die Bücher: „Die Bibliothek hatte ihre Geschenke in sie hineingepflanzt. Die Wörter.“ (S. 301) Und lesen Sie auf S. 301 weiter, dort wird die Literaturtheorie in diesem Buch vervollständigt.
David Whitehouse,
> Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek
Roman, Aus dem Englischen von Dorothee Merkel (Orig.: Mobile Library)
1. Aufl. 2015, 315 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-608-50148-3