Howard Jacobson gehört zu den bekanntesten Autoren Großbritanniens. Übersetzungen seiner Romane erscheinen in zwanzig Ländern. 2010 erhielt er den Booker-Preis für den Roman The Finkler Question, auf Deutsch Die Finkler-Frage, übers. v. Bernhard Robben, München: dva 2011.
Gerade ist sein neuester Roman auf Deutsch bei Tropen erschienen: > Pussy. Ein Erziehungsroman, mehr noch eine Satire, die auch der Frage nachgeht, was passieren könnte, wenn die Wähler/innen das Interesse an der Politik und überhaupt ihren Kopf verlieren. Es geht auch um die heutige kurzatmige Medienwelt, die alle Informationen wie schon das TV in kleine Stückchen zerhackt, wo Infos und Werbung oft dasselbe sind, wo soziale Netzwerke gesellschaftliche Beziehungen nur vortäuschen, wo Leute nur noch auf ihrem Smartphone daddeln, aber nichts mehr von ihrer Stadt mitbekommen, wo ganze Parlamente nur absegnen, was nachts in Geheimtreffen beschlossen wurde, wo Mut und Verantwortung durch Häme, Wut und Desinteresse ersetzt wird, wo jede Form von Engagement als Streit zurückgewiesen wird, wo Bürger den Kontakt zur Politik verlieren, denn da kann es passieren, dass plötzlich ein politisch Unbekannter, der über Standhaftigkeit und viel Geld verfügt, die ihn einen mörderischen Wahlkampf durchstehen lassen, eines Morgens plötzlich als Wahlgewinner vor uns steht. Demokratisch gewählt, legitimiert und dennoch sofort von den Medien unisono attackiert. Da darf man die Frage stellen, ob der Zustand des Wahlvolks diese Politik verdient und folglich auch gewählt hat oder ob es der Charakter des Kandidaten war, der seinen Wahlerfolg bestimmt hat? In der Erziehung von Fracassus sind bestimmt Fehler gemacht worden, auch wenn seine Lehrer sich redlich abgemüht haben. Aber der dritte Lehrer, die dritte Gewalt über ihn, die Medien haben, folgt man Jacobsen, ein gerüttelt Maß an Schuld.
In der hinter einer Mauer eingeschlossenen Republik Urbs-Ludus ist Professor Kolskeggur Probrius nach dem Verlust seines Lehrstuhls auf Jobsuche. Da ist es gerade recht, dass im Palast der Goldenen Tore, wo die Großherzogin und der Großherzog von Origen Probleme mit ihrem Zweitgeborenen Fracassus in den 270 Stockwerken des Palastes nicht alleine meistern können. Wirtschaftliche Probleme gab es in Urbs-Ludus eigentlich nicht – die Türme sprießen überall – es gab nur Mangel beim Teig und Brot. Schwierigkeiten entstanden nur wegen der vielen importierten Bäcker, deren wachsende Zahl Aufstände verursachten.
Es ist nicht schwer, die Zielperson dieser Satire auszumachen. Aber lesen wir zunächst diesen Roman, ein Erziehungsroman. Kein Wunder, dass der eingeschlossene kleine Fracassus sich nicht so recht entwickelt, begrenzter Horizont, begrenzter Wortschatz und die in die Wiege gelegte Perspektive, im Immobiliengeschäft mal groß rauszukommen, und ein durch äußerste Verwöhnung ausschließlich auf sich bezogenes Kind, das eigentlich nur gewohnt ist, alles für sich und als seins zu beanspruchen, was auch nur andeutungsweise ihm im Innenverhältnis präsentiert wird. Die Außenwelt ist für ihn quasi inexistent. Dann aber wird ihm die Welt der Medien und des Internets geöffnet: Die Serie über Kaiser Nero auf allen Bildschirmen. Seine Verwirrung wird nur noch größer, da Geschichte oder gar eine Chronologie ihm völlig unbekannt bleiben. Unzufriedenheit im Volk… die kann man mit sozialen Medien nur noch genussvoll steigern, wenn man nur ordentlich draufhaut. In der Erziehung des Kleinen ging alles schief.
Dr. Cobalt wird seine Privatlehrerin, die ständig zwischen Resignation und Verzweiflung lebt und irgendwie den Anschein einer Erziehung aufrechtzuerhalten versucht. TV: Diskursives lehnt er ab, Krawall ist ok. Action statt Geschichten. Professor Probrius bekommt seinen Job und wird Kollege von Dr. Cobalt. Wird es ihnen gelingen, aus einem Monster einen Menschen zu machen?
Ein bisschen Wirtschaftskunde kommt von Vater Großfürst, wie man sich durchschlägt, Steuern vermeidet usw. „Erstklassig,“ endlich kann Fracassus ein neues Wort. Twitter wir für ihn zur Spielwiese, nachdem er begriffen hat, dass Interaktivität nicht mehr sein muss, als sein Gequatsche rauszuhauen. Dafür brauchten die Großfürsteltern einen Art Art-Director, Caleb Hobsack, der Vorsitzende de Partei der Normalen Leute wird für diesen Job engagiert. Bald hat Fracassus eine Million Follower.
Bald darf er auf Exkursion nach Gnossia, wo er vom gerade dahinscheidenden Präsidenten Phonocrates nun doch endlich mal eine Weisheit annimmt: „Um in der Politik Erfolg zu haben, muss man standhaft sein. Ist man halbherzig, scheitert man.“ Das ist mehr Machiavelli als Phonocrates. Standhaft in der ureigenen Welt, immer auf sich bedacht, nur sich allein immer im Mittelpunkt, Fracassus hat verstanden, weil er nur hört, was er ohnehin schon weiß. Dann öffnet sich für den Jungen die Welt der TV-Shows. Mit „Denunzianten im Dutzend“ geht es los und nebenbei bekommen unsere heutigen TV-Shows auch gleich was mit ab. Fracassus jubelt: Gnossia sei erstklassig.
Irgendwann hält der junge Mann dann seine ersten Reden. Nur Übertreibungen, alles erstklassig. Sich bereichern, aber bitteschön nur auf Kosten Anderer.
Eine kurze Bekanntschaft mit Sojjourner, der Garderobiere und Studentin wird ein Nachspiel haben, wenn sie plötzlich als seine Gegnerin in der Schlammschlacht des Wahlkampfs wieder auftaucht: Wer kann gröber und gemeiner als der andere sein und auch gewinnen?
Howard Jacobson
> Pussy
Roman
Aus dem Englischen von Johann Christoph Maass
1. Aufl. 2018, ca. 272 Seiten, gebunden, Flexband
ISBN: 978-3-608-50351-7