Lesebericht: Jonathan Lethem, Chronic CIty

Die Bühne des Romans ist Manhattan mit seiner schillernden Gesellschaft aus Bohemiens und mehr oder weniger Reichen. Dauer des Romanes: rund 7-8 Monate. Chase Insteadman, als Kinderstar einst bekanntgeworden, hat eine Fernbeziehung mit einer Astronautin, die im Weltraum festsitzt. Im wirklichen Leben hier unten ist aber Oona seine Geliebte. Der Reihe nach: Eines Tages trifft Chase Perkus Tooth, für den der Musikkritiker Paul Nelson Jonathan Lethem Modell gestanden haben soll. Perkus lebt in einer heruntergekommenen Wohnung, kifft ohne Unterlass, scheint aber über alles bestens orientiert zu sein. Chase bekommt alles nur halb mit. Perkus geht es nicht wesentlich besser. Er hat ständig Kopfschmerzen, versucht aber dennoch auf Chase aufzupassen. Beide stützen sich gegenseitig. Eine Keramik spielt auch eine Rolle, die für beide eine Art Bezugspunkt wird.

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Wenn man sich auf die Lektüre des Romans einlässt – nehmen Sie sich für die nächsten Abenden erst mal besser nichts vor – kann man für die Dauer des Romans in dieses New Yorker Gesellschaftsleben eintauchen. Die gekonnte protokollierende Mitschrift der Gespräche, die Einführung der Personen mit ihren Vorlieben und Abneigungen macht den Leser zu einem Mitwirkenden, und das ist auch der Dreh, mit dem es Lethem gelingt, dem Leser eine so spannende Geschichte zu präsentieren. Chase ist eigentlich nur eine Tischdekoration bei den mondänen Abendveranstaltungen. Perkus hat ihm das auf den Kopf zugesagt. Und Chase kann mit der Kritik ganz gut umgehen und beobachtet das Geschehen dann auch aus der Dekorationsperspektive.

Dann begegnet Chase Oona. Sie taucht überraschenderweise bei Perkus auf. Bei einer Beerdigung trifft er wieder auf Oona. In ihre Wohnung darf er nicht, aber er darf sie küssen und bald auch mehr. Dann kommt wieder ein Brief von Janice, die dort oben in ihrem Weltraumvehikel festsitzt. Während Perkus nach Downtown zu seinem Arzt fährt und dann mit Nadeln gespickt auf die Erlösung von seinen Kopfschmerzen wartet, sucht Chase ihn. Sie treffen wieder zusammen und Perkus erzählt von der Keramik, ein Kaldron, in die er sich vernarrt hat: also rein ins Internet und versuchen sie zu ersteigern.

Die Frage „Wem gehört New York?“ (S. 138) macht dieses Buch auch zu einem Stadtführer aus ganz bestimmten Perspektiven, die der Leser erst mal für sich zusammensetzten muss. Richard Abneg, Biller, Claire Carter, und alle anderen Protagonisten führen ihr eigenen Leben mit mehr oder weniger großen Schutzzonen, die ständig auf irgendwelchen Weisen miteinander in Berührung kommen. Nächtliche Ausschweifungen jeder Art wechseln mit Dinnerparties beim Bürgermeister ab: S. 274-307. So genau beschrieben! Der Eindruck verfestigt sich, als ob der Leser mit dabei gewesen ist.

Ohne große Pausen sollten Sie dieses Buch lesen. Wie ein Film wird ihnen ein Ausschnitt der New Yorker Gesellschaft vorgeführt. Irgendwie beeinflusst die Stadt diese Personen, die in Chronik City auftreten. Wer prägt wen mehr? Die Stadt ihre Bewohner oder umgekehrt? Gerade in New York ist das nicht leicht zu entscheiden. Es sind Geschichten, die sich wohl so nur in New York abspielen können. Lethem gelingt es, auf subtile Weise seinen Protagonisten eine Individualität zu verleihen, ihnen unverwechselbare Eigenheiten mitzugeben und sie doch zu einem Teil einer Gesellschaft zu machen, deren Charakterisierung er dem Leser überlässt.

Jonathan Lethem
> Chronic City
Roman, aus dem Amerikanischen von Johann Christoph Maass und Michael Zöllner
(Orig.: Chronic City)
1. Aufl. 2011, 495 Seiten,gebunden ohne Schutzumschlag, Lesebändchen
ISBN: 978-3-608-50107-0