Lesebericht: Laline Paull, „Die Bienen“

Unser Gastautor > Oliver W. Steinhäuser ist Student der Hochschule der Medien in Stuttgart und von diesem Buch begeistert. Kaum hatte er das Buch ausgeliehen, kam sein Lesebericht nach drei Tagen:

paull-bienenBei Tropen ist ein Buch über Bienen und für Bienen-Liebhaber erschienen. Ist „Die Bienen“ eine kritische Betrachtung unserer Gesellschaft, symbolisiert anhand des Lebens in einem Bienenstock? Oder geht es in dem Buch doch nur um das Leben, das Überleben und das Miteinanderleben von den so in den Blütenhonig verliebten Insekten?


Klappentext:
Ihr Name ist Flora. Ihre Nummer 717. Sie ist ziemlich groß. Ihr Pelz ist struppig. Andere finden sie hässlich. Doch sie ist klug und mutig. Und sie kann sprechen! Flora 717 ist eine Biene. Laline Paull erzählt das ergreifende Abenteuer dieser außergewöhnlichen Biene in einer anderen und doch zutiefst vertrauten Welt.


„In der Zelle war es erdrückend eng und viel zu warm. Außerdem stank es. Ein stechender Schmerz war ihr in sämtliche Gelenke gefahren, so sehr hatte sie sich gegen die Wände gestemmt. Der Kopf wurde ihr auf die Brust gedrückt, und sie hatte Krämpfe in den Beinen, aber ihre Anstrengungen wurden belohnt – eine der Wände schien nachzugeben. Mühsam drehte sie sich um und trat mit aller Kraft dagegen. Etwas knirschte und brach. Sie zerrte daran, bis sie ein schartiges Loch vor sich hatte, durch das frische Luft hereinströmte.“ S. 9

Die Natur hat den Bienen ihren gesellschaftlichen Rang im Bienenstock einprogrammiert: „Sie befand sich in der Ankunftshalle, und sie war eine Arbeiterin. Ihr Sippenname lautete Flora, und ihre Nummer war 717. Sie wusste, worin ihre erste Aufgabe bestand, und machte sich dar an, ihre Zelle zu säubern. In ihrem ungestümen Bemühen zu schlüpfen hatte sie, im Unterschied zu ihren ordentlicheren Nachbarn, die ganze vordere Wand niedergerissen. Sie schaute sich um und folgte ihrem Beispiel. Fein säuberlich häufte sie die Trümmer neben der Öffnung auf. Das half ihr, einen klaren Kopf zu bekommen, und sie wurde sich der unermesslichen Weite der Ankunftshalle bewusst.“ ib.

Zu Beginn des Romans, als der Leser die Geburt von Flora 717 miterlebt, und wie die Bienenpolizei die Neugeborenen inspiziert und missgebildete Bienen tötet und beseitigt, wird der Eindruck einer Gesellschaftskritik zunächst bestätigt. Doch die allgegenwärtige Kampfansage des Lebens an seine Geschöpfe ist letzten Endes auch genau das, was das Leben in einem Bienenstock beschreibt. Das durch starre Hierarchien bestimmte Leben taktet jede noch so detaillierte Aufgabe und führt all jene zur Erlösung, die sich dem System widersetzen oder nicht in ihm funktionieren. „Sterbet ach mit Würde, Schwester“. Der Gedanke einer kritischen Auseinandersetzung mit unserer Gleichen rückt zunehmend in den Hintergrund, denn der Leser verschmilzt mit Flora 717, fühlt mit ihr, denkt mit ihr. Wird zu ihr. Und lernt dabei das Leben aus der Sicht einer Biene zu sehen.

Die Autorin Laline Paull taucht den Rezipienten durch Flora 717, die über Fähigkeiten verfügt, die in der Regel weit über die einer Arbeiterbiene hinausgehen, in eine zwielichtige Fabel über Begabung, sozialen Aufstieg und den Umsturz repressiver Systeme. Gerade diese Auseinandersetzungen modellieren den Titel darüber hinaus zu einem Abenteuerroman, der durch die starke und mutige Flora 717 kaum zu bremsen ist.

Und plötzlich sitze ich in dem Bienenhaus meines Großvaters: „Können Bienen wirklich tanzen?“, frage ich ihn. „Ja. Sie tanzen den Weg zur nächsten Futterkrippe, damit alle anderen Sammlerinnen dem Weg des Nektars folgen können.“ Duft frischer, von Honig durchtränkter Waben umgibt mich, steigt mir in die Nase, versetzt mich zurück in meine Jugend. Frech stibitze ich meinem Großvater ein paar Tropfen des süßen Goldes und sitze plötzlich wieder in der Stadtbahn. Immer wieder entführen mich die Bienen in eine andere Welt. Der nächste Schwall des feinen Dufts von Honig wabert schon wieder durch die Bahn und ich vergesse auszusteigen.