Lesebericht: Wolfram Eilenberger, Das Ruhrgebiet. Versuch einer Liebeserklärung

Wolfram Eilenberger, Das Ruhrgebiet Versuch einer LiebeserklärungEs gibt keine andere Gegend in Deutschland, wo eine Stadt in die andere übergeht, 53 Städte gehören zum Ruhrgebiet und etwa fünf Millionen Einwohner. Der Philosoph Wolfram Eilenberger ist dort hingereist, auf der Suche nach dem Mythos Ruhrgebiet, nach dessen Seele auf der Suche nach seiner Geschichte.: > Das Ruhrgebiet. Versuch einer Liebeserklärung.

Schaut man genauer hin, ist das Ruhrgebiet eigentlich erst als wirkliche Einheit entstanden, als seine große bergmännische Zeit schon vorüber war. Erst als der Begriff „Metropole Ruhr“ erfunden wurde, gab es auch den Versuch, dieser Ansammlung so heterogener Städte eine gemeinsame Identität zu verpassen, die auf der Geschichte der Region ruhte. Konnte das gelingen? Die Rückbesinnung auf vergangenen Formen gemeinsamen Arbeitens in den Schächten unter Tage ist auf den ersten Blick kaum geeignet, um ein traditionelles Band um die Ruhrstädte zu schnüren. Oder war es vielleicht der „Strukturwandel“ als identitätsbildende Zukunftsaufgabe, die den Ruhrstädten eine gemeinsame Aufgabe und somit ein Zusammengehörigkeitsgefühl jenseits aller Versuche, das beste Stück abzubekommen, verlieh? Einfach war es nicht, in dieses Industriegebiet neue Arbeitsformen einzuführen. Aber das Ergebnis verlangt Respekt. 2020 habe keine Region in Deutschland eine höhere Hochschul- und Spitzenmuseumsdichte als das Ruhrgebiet (vgl. S. 30). Reicht das? War die Kulturinfusion hinreichend, um dem Ruhrgebiet das Überleben zu sichern? Eilenberger begibt sich auf Spurensuche, und bezieht sich dabei auf Simone Weils (1909–1943)Werk Die Verwurzelung (1943), die darüber im Londoner Exil nachdenkt.

Der Essay von Wolfram Eilenberger ist auch eine Literaturgeschichte des Ruhrgebiets. Einheimische und zugereiste Literaten beteiligen sich an dem Projekt, die Eigenheiten der Ruhrmetropole zu beschreiben, zu ihrer Identität beizutragen und Überlegungen für ihre Zukunft zu liefern. Literatur hat eine Kraft der Vorhersage, das wusste auch Heinrich Böll, der sich der (künftigen) Eigendynamik des Ruhrgebiets sehr wohl bewusst war (vgl. S. 39 f.). Genausogut ist Literatur auch Erinnerung (u. a. Ralf Rothmann, Frank Goosen, Christoph Biermann), die ihren Teil zur Identität der Metropolregion beiträgt.

Es gibt aber Grenzen der Erinnerung: Eilenberger weiß: „Weder ist der heutige Pott das, was er einst war. Noch das, was er zu sein glaubt.“ (S. 78) Das kann man nur damit erklären, dass der Bruch, die Konversion des Arbeitslebens, die Neuanpassungen einfach zu stark und übergreifend waren, so dass sie auch die bisherige Geschichte der ganzen Region im Sinne einer Neubewertung in Frage gestellt haben. In diesem Zusammenhang erinnert Eilenberger an Sartres „mauvaise foi“, die „scheinfeste Blindheit für die faktische Offenheit jedes Daseins“ (S. 78) und meint damit, dass das eigene Bild so leicht den Blick und Ausblick auf alles andere verstellen kann. Und Eilenberger wirft dann einen Blick auf die Traditionsvereine und den Fußball und untersucht deren identitätsstiftenden Eigenheiten. Nach diesem Ausflug kommt er zur nächsten Station: die Ruhr in Bochum, diese Betonklötze ohne Seele, gebaut 1962. 40.000 Studenten mit ihren Professoren tragen zu ihrer Spitzenposition bei.

Auf seiner Spurensuche wird Eilenberger sich klar, dass das Ruhrgebiet auf dem Höhepunkt seiner besten Jahre, also in den 50 und 60er als solches im Denken seiner Bewohner (heute neudeutsch „Ruhris) noch gar nicht existierte: „Das Ruhrgebiet gibt es erst, seit es das Ruhrgebiet nicht mehr gibt.“ (S. 96) Schöner kann man das Ergebnis der mancherorts qualvollen Konversion kaum beschreiben. Auf zu neuen Ufern, wenn Sie dieses Buch gelesen haben, werden Sie mit Sicherheit nicht mehr einfach so durch das Ruhrgebiet durchbrausen, sondern anhalten und den von Eilenberger gelegten Spuren nachgehen.

Wolfram Eilenberger
Das Ruhrgebiet Versuch einer Liebeserklärung
1. Aufl. 2021, ca. 144 Seiten, gebunden
ISBN: 978-3-608-50507-8

„Auf der Leipziger Buchmesse hat unsere Redaktion Wolfram Eilenberger getroffen und ihn nach seinem Buch, > Zeit der Zauberer. Das große Jahrzehnt der Philosophie 1919 – 1929 befragt:

Die Philosophen Ludwig Wittgenstein, Walter Benjamin, Ernst Cassirer und Martin Heidegger prägten die Jahre 1919-1929. Jeder von ihnen hat ein anderes Schicksal, und dennoch zeugen ihre Gegensätze und Gemeinsamkeiten von einer Epoche unvergleichlicher geistiger Kreativität. Wolfram Eilenberger verknüpft diese Einzelschicksale, kurze und einfühlsame Biographien mit Analysen zum geistigen, philosophischen Schaffen der genannten Philosophen in diesem Band. …“

Wolfram Eilenberger,
> Zeit der Zauberer. Das große Jahrzehnt der Philosophie 1919 – 1929
1. Aufl. 2018, 431 Seiten,
gebunden mit Schutzumschlag,
mit zahlreichen Abbildungen
ISBN: 978-3-608-94763-2

> www.wolfram-eilenberger.de

Lesebericht: Wolfram Eilenberger, Bin das ich? Kleine Menschen, große Fragen

Wolfram Eilenberger, den wir gerade zu seinem Buch > Feuer der Freiheit interviewt haben, hat jetzt das Buch Bin das ich? Kleine Menschen, große Fragen vorgelegt: „Wie erstaunlich und seltsam sie sind – unsere Kinder,“ steht auf der U4. Sie fordern uns heraus, durch beständiges Nachfragen, teilen sie uns mit, wie sie die Welt sehen, wie sie sie entdecken und lassen uns daran teilhaben. Hören wir genau hin, dann entdecken wir spannende Geschichten. Und wenn wir unsere Kinder wirklich erst nehmen, verstehen wir die Entwicklung von grundlegenden Einsichten. …

Wolfram Eilenberger
> Bin das ich?
Kleine Menschen, große Fragen
1. Aufl. 2021, 128 Seiten, gebunden
ISBN: 978-3-608-96462-2