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Interview mit Jürgen Overhoff: Johann Amos Comenius, Große Didaktik. Die vollständige Kunst, alle Menschen alles zu lehren

Aufgezeichnet von Heiner Wittmann
5.7.2022

In einer neuen von Jürgen Overhoff herausgegebenen Ausgabe ist gerade die »Große Didaktik« von Johann Amos Comenius (1592-1670) mit dem Untertitel »Die vollständige Kunst, alle Menschen alles zu lehren« in der Übersetzung von Andreas Flitner bei Klett-Cotta erschienen.

Comenius gilt zu Recht als Begründer der modernen Didaktik, die er zwischen 1627 und 1628 verfasst hat und die 1675 in Amsterdam erschienen ist.

Interview mit Jürgen Overhoff: Johann Amos Comenius, Große Didaktik. Die vollständige Kunst, alle Menschen alles zu lehren
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Comenius schreibt: „3. Denn weise hat der gesprochen, welcher sagte, die Schulen seien Werkstätten der Menschlichkeit, indem sie eben bewirken, dass der Mensch wirklich Mensch werde, das heißt gemäß unseren obengenannten Zielen: I. vernünftiges Geschöpf, II. Ein Geschöpf, das die anderen Geschöpfe und sich selbst beherrscht, III. Geschöpf, das die Wonne seines Schöpfers ist.“ (S. 126) An vielen anderen Stellen kommt Comenius auf diesen Gedanken zurück, ganz explizit noch mal im 23. Kapitel Die Methoden der Sittenlehre, ein zentrales Kapitel seiner Didaktik, dass schon im ersten Absatz mit Blick auf „Methoden, Wissenschaften, Künste und Sprachen“ als Gewährsmann Seneca zitiert: „Nicht lernen müssen wir dies alles, sondern gelernt haben.“ Darum geht es, Lernen als einen Wert, als eine Haltung, so wie Comenius die Werte nennt, die seine Didaktik definieren: „Die Kunst, zur Sittlichkeit herauszubilden, lässt sich in 16 Hauptregeln fassen.“ (S. 280) Werden sie beherzigt kann man von Schulen als „Menschenwerkstätten“ sprechen. Zu diesen Regeln gehören u.a. „ein richtiges Urteil über die Dinge ist eine Grundlage aller Tugend, Maßhalten, Gerechtigkeit, wie u.a. auch Ausdauer in der Arbeit, was wohltuenderweise dem heute oft geratenen schnellen Phasenwechsel widerspricht. Gerade richtig modern klingt der folgende Satz: „Auch im Spiel kann gelernt werden, was im Ernstfall nützlich ist, wenn die Umstände es verlangen.“ (S. 282)

Um die Aktualität dieses Buches gleich zu Anfang dieses Leseberichts zu unterstreichen, nennen wir das 26. Kaptiel Von der Schulzucht. Man kennt das aus unseren Schulen, die 7. und die 8. Klassen sind oft schwierige Klassen, die Pubertät und  die durch die Corona-Pandemie und die Schulschließungen verursachten Lücken werden oft als Entschuldigung angeführt, falls die 7er und die 8er mal wieder über Tisch und Bänke gehen, ihre Schulsachen nur teilweise oder gar nicht mitbringen, keine Hausaufgaben machen, sich einander oder dem Lehrer nicht zuhören, Vokabeln nicht lernen und offensichtliche Lustlosigkeit verbreiten. Zucht ist die Übersetzung für disciplina, alles erschlafft, wenn die Zucht fehle, das Unkraut  emporschieße, wieder ein Belege für die vielen Parallelen zur Natur, (vgl. bes. 14. Kapitel) die Comenius immer wieder zitiert. Fehle die Zucht, so der Autor, bedeute das nicht, „dass in der Schule Geschrei, Prügel und Schläge herrschen müssen, sondern Wachsamkeit und Aufmerksamkeit bei Lehrern und Lernenden.“ (S. 325) Nebenbei bemerkt, jegliche Art von Prügel wird von Comenius seiner Zeit weit voraus – mein Grundschullehrer aus Herrlingen kannte ihn bestimmt nicht – strikt abgelehnt. Er versteht Zucht, als einen“bestimmten Modus, die Schüler wirklich zu Schülern zu machen.“ (S. 325)  Natürlich muss Unrecht geahndet werden, aber mit einer Zucht „ohne Leidenschaft, Zorn oder Hass … mit solcher Aufrichtigkeit und so lauterem Sinn, dass der gezüchtete selbst merkt, die Strafe sei zu seinem besten über ihn verhängt und entspringe dem väterlichen Wohlwollen derer, die ihm vorgesetzt sind…“ (S. 326) Das aber die Studien der Inhalte „selbst einen Anreiz auf die Gemüter ausüben, ja sie reißen durch ihren Reiz alle (die nicht gerade Unmenschen sind) an sich. Und jetzt folgt der entscheidende Satz: „Wenn dem nicht so ist, so sind daran nicht die Lernenden, sondern die Lehrenden schuld.“ (ib.) „Studienüberdruss“ ist ein wunderbares Wort für das ständige Stören, er soll durch „eine geregelte Lebensweise und sanfte Mittel“ beantwortet werden. Und dann kommt das Beispiel wieder aus der Natur: Auch die Sonne glüht nicht zuerst sondern erwärmt langsam. Oder ein anderes Bild: der Musiker „stimmt sein Instrument so lange kunstgerecht, bis die Harmonie wiederherstellt ist.“ (S. 327) Zielen, die keineswegs nur Berufsanfänger etwas angehen, sondern auch zum Zwecke der Selbstvergewisserung sich an alle Lehrer richten. Wohldosiertes Lob und wöchentliche Wettkämpfe empfiehlt Comenius. Kein Wunder, dass er dem Lehrer immer wieder empfiehlt, durch gutes Beispiel voranzugehen: „Heftiges Blitzen und Donnern dar nur in außergewöhnlichen Fällen vorkommen und dann nur mit dem Vorsatz, dass die Strenge stets in Liebe münden müsse.“ (S. 329)

Comenius‘ Große Didaktik steht für die unbedingte Freiheit des Menschen und vor allem auch für den gegenseitigen Respekt zwischen Lehrenden und Lernenden, den der Autor mit ständigem Blick auf die Natur immer wieder einfordert. Es ist die Vernunft, die Comenius im Vorgriff auf die Aufklärung als Kern seiner Didaktik versteht. Das Lernen dem Schüler erleichtern, so könnten man es auch nennen: viel Anschauungsmaterial (wieder mit Blick auf die Natur, vergleiche Overhoff, S. 36 ff.) soll den Schülern helfen: Ein Plädoyer für das Lehreraumprinzip oder  auch hier »Der Lehrer als Gastgeber« (Pädagogicum Baden-Baden). Comenius will den Schüler zum Augenzeugen machen, der sich nicht auf Hörensagen verlassen soll. (vgl. die präzise Einleitung von Jürgen Overhoff, S. 24.

Koedukation war für Comenius selbstverständlich. Und er forderte kleine Klassen: 10 Schüler waren ihm am liebsten und er mochte die Gruppenarbeit, für die er bestimmte Vorstellungen hatte, ein „Aufseher“ aus der Gruppe ein Verantwortlicher musste die Arbeiten überwachen.

Comenius beginnt seine Große Didaktik mit einem „Gruß an den Leser“: „Didaktik bedeutet die Kunst des Lehrens.“ (S. 47) Adressaten seines Buches sind alle Akteure, die am Schul- und Unterrichtsgeschehen beteiligt sind: von den Eltern, über die Lehrer zu den Schülern und Schulen, wie auch das Gemeinwesen, die Kirche und auch der Himmel. Die drei Anlagen des Menschen, die es gilt zu fördern, sind die gelehrte Bildung, die Sittlichkeit und die Religiosität. Die Jugend muss gemeinschaftlich in Schulen gebildet werden (8. Kapitel, S. 113 ff.), beiderlei Geschlechts (Kap. 9) wohlgemerkt. Der Unterricht in den Schulen muss alles umfassen, (Kap. 10), kein Platz für eine Fachdidaktik. Werden Frömmigkeit und Tugend vernachlässigt gehen aus der Schule „wilde Wildesel und ungebärdige Maultiere“ (S. 135) hervor.

Wie wird denn nun am besten gelehrt? Dieser Frage sind Kapitel 16 und folgende gewidmet:

Comenius ist Reformpädagoge, deshalb berufen sich die Schulen die Hermann Lietz (1868-1919) folgen, heute auch auf ihn: > www.lietz-schulen.de. Kapitel 12: Die Schulen können reformiert werden, wozu es einer richtigen Ordnung bedarf (13. Kapitel). Liest man seine Kritik an der bröckchenweise Vermittlung der Künste und Wissenschaften, keine enzyklopädische Form, nur ein Auftürmen von Holz und Reisig (S. 225), dann merkt man man schnell, dass seine Kritik oder Reformvorschläge sich auch an den heutigen Schulunterricht wenden, wo allein schon die einfache Verbindung der Fächer untereinander allen am Projekt Schule Beteiligten schwerfällt, denn kaum ein Schüler merkt wirklich noch nicht mal in der 10. Klasse, dass Literatur im Französischunterricht mit den Literaturen der anderen Fächer wirklich etwas zu tun hat. Ach, in Klasse 10 haben ja so wenig Schüler überhaupt einen literarischen Text gelesen, aber man hält sie für fähig, darüber zu entscheiden, ob Sie Französisch weiterhin belegen  oder nicht: Der Brief an Schülerinnen und Schüler > Französisch-Leistungskurs bis zum Abitur – www.france-blog.info.

Die kreative Beteiligung der Schüler am Unterricht: Die Art und Weise, wie Schüler ihre schriftlichen Arbeiten im Unterricht verbessern sollen: S. 233 ff., enthält bemerkenswerte Vorschläge, die jede Fachdidaktik von heute, übertreffen. Korrekturen durch die Schülergruppe, und Comenius macht das auf äußerst geschickte Weise, die zum Nachahmen einlädt. Sind alle mit der schriftlichen Arbeit fertig, fängt einer an vorzulesen, die anderen korrigieren, das letzte Wort hat dann, wenn es noch nötig ist, der Lehrer. Comenius deutet schon an, dass Schüler an der Steuerung des Unterrichts beteiligt werden: Heute heißt das inverted teaching oder Classe inversée.

Die Methode für die Sprachen (22. Kapitel, S. 269 ff.) interessiert uns ganz besonders: „Die Sprachen werden nicht gelernt als ein Teil der gelehrten Bildung oder der Weisheit, sondern als Werkzeug, solche Bildung zu gewinnen und sie anderen mitzuteilen.“ Wie wenige meiner Schüler haben wirklich schon im 4. oder gar im 5. Lernjahr entdeckt, was sie mit Französisch alles machen können „Jede Sprache soll mehr durch Gebrauch als durch Regeln gelernt werde…“ das ist doch ein eindeutiges Plädoyer für einen einsprachigen Unterricht in der Fremdsprache, da haben deutsche Entsprechungen nichts an der Tafel zu suchen. Und was ist mit den von Comenius so klug favorisierten Redewendungen? Wieviele davon beherrschen heute die Französischschüler im 4. oder 5. Lernjahr? Comenius erinnert uns an sein Janua linguarum reserata, sive Seminarium linguarum et scientiarum omnium … Die eröffnete Sprachenthüre, oder Pflanzschule aller Künsten. Die achte verbesserte Edition, 1641 und kritisiert an anderer Stelle das Vokabellernen (S. 272) und meint damit die Schwierigkeiten für die Schüler, einzelne Worte ohne Satzzusammenhänge zu lernen. Und er dringt auf die Abfassung der Regeln, die auf der Formulierung früherer Regeln aufbauen sollen, was aber in heutigen Lehrwerken aber nicht immer stringent durchgehalten wird, wird dort doch meist ein Grammatikphänomen nach dem anderen abgehandelt: Wiederholung? Fehlanzeige. Echte Wiederholung kommt in den Lehrplänen auch nicht vor. Schüler geraten heute in arge Schwierigkeiten, wenn in einer Klassenarbeit plötzlich ein Thema einer früheren Arbeit erscheinen würde. – Wie man Sprachen vollkommen lernen kann: lautet eine der Überschriften in diesem Kapitel und es gibt Stoff für einen abendfüllende Diskussion. Sollen wirklich 1-2 Jahre einer Sprache (vgl. S. 271 f.) gewidmet werden und dann kommt in den nächsten beiden Jahren die nächste Sprache dran, wie er an derer Stelle vorschlägt?

Comenius wusste nichts von unseren sogenannten Neuen Medien. Aber in seinem Gedankengang (S. 177 f.), mit dem er an den klugen Baumeister erinnert, er erst die Baustoffe zurechtlegt, oder den Maler, der erst Leinwand, Pinsel und Farben vorbereitet, kommt er auf Schulen zu sprechen, denen Bücher fehlen. Und es gibt auch noch etwas anderes, dass dem Prinzip des Baumeisters widerspriche, wenn „In den Büchern, welche die Schulen haben, diese natürliche Ordnung nicht beachtet wird, dass der Stoff vorausgehen und die Form folgen soll. Fast überall findet sich das Gegenteil: Die Ordnung der Dinge kommt vor den Dingen selbst, wo es doch unmöglich ist, etwas zu ordnen, was noch nicht vorhanden ist.“ (Ib.) So wird 1675 ganz modern Mediendidaktik kritisiert, die es ja eigentlich heute  immer noch nicht gibt. Leider geben die sozialen Netzwerke wie auch viele Lernprogramme die Formen vor, diese Wege sind zu beschreiten, dann folgen die Inhalte oder wenn Inhalte in digitale Formen gefüllt werden, sind viele Regeln zu beachten. Das meint Comenius klug mit der kritischen Bemerkung , in den Schulen komme die Form vor dem Stoff. In jeder Klasse ist die eine Hälfte mit Papier und Stift in nahezu jedem Fach der anderen Hälfte, die ein IPad hat, überlegen. Wir wissen, dass der Satz heute so nicht mehr stimmt, aber trotzdem darf die Frage gestellt werden, ob der Französischunterricht mit Neuen Medien heute wirklich eine bessere Position als früher hatte?

Das Erstaunliche an diesem Buch ist seine Modernität, die es mit jeder Diskussion, die heute in einer Schule über ihr Leitbild und auch in den Fachkonferenzen geführt wird, mit Leichtigkeit und guter Unterstützung aufnehmen kann. Wie gut, dass Klett-Cotta immer wieder Neuausgaben dieses Werkes vorlegt.

Heiner Wittmann

Große Didaktik

Die vollständige Kunst, alle Menschen alles zu lehren

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Beteiligte Personen

© Autor

Jürgen Overhoff

Jürgen Overhoff, geboren 1967 in Lippstadt, studierte in Berlin, London und Cambridge Neuere Geschichte, Evangelische Theologie, Philosophie und Politolog...

Jürgen Overhoff, geboren 1967 in Lippstadt, studierte in Berlin, London und Cambridge Neuere Geschichte, Evangelische Theologie, Philosophie und Politologie. Seit 2013 ist er Professor für Historische Bildungsforschung an der Universität Münster. Die dortige Arbeitsstelle für Deutsch-Amerikanische Bildungsgeschichte gründete er 2014. Zwischen 2018 und 2022 amtierte er als Präsident der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts.