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Lesebericht: Nicola Denis, Die Tanten

Verfasst von Heiner Wittmann
5.12.2022

Der erste Satz dieser Vierfach-Biographie setzt den Rahmen dieser Erzählung. Es geht um die vier Tanten der Autorin, die 1907, 1909, 1911 und 1917 als ältere Schwestern ihres Vaters geboren wurden und unverheiratet blieben. (vgl. S. 7

„Alleinstehend“, „Plastisch und kompakt, sich selbst genügend.“ (S. 8) Und die Formulierungen, die die Tanten charakterisieren, werden immer besser: „Auch weil sie als geschlossenes Quartett der Außenwelt eine sehr eigene, souveräne Daseinsform vorlebten.“ (S. 8) Marianne, Hanne, Hilde und Irene „bildeten zweifelsohne eine unbequeme moralische Instanz in meinem Familienkosmos.“

Lesebericht: Nicola Denis, Die Tanten

Was folgt ist eine Erzählung, ein Roman, aber auch ein soziologisches Porträt der Familienbande, ein Porträt einer ganz besonderen Art. Die Tanten nahmen es hin, dass ihre Nichte erst einmal in Frankreich wohnte und mit feinem Gespür für die familiäre Entwicklungen berichtet die Autorin, wie die vier Schwestern, die man zuweilen in ihrem VW-Käfer beobachten konnten, nun weniger miterzieherisch wirkten, aber vor allem mit ihrem Modell von vier autonomen Frauen „als mögliches Weiblichkeitsmodell jenseits von Ehefrau und Mutter“  (S. 12) größere Bedeutung gewannen.

Autonomie, gleich in vierfacher sich untereinander verstärkender Weise, das ist also das Thema dieser Erzählung. Damit setzt die Biographie des Tantenquartetts ein: Marianne studiert Medizin, wird Nervenärztin. Hanne bewährt sich als chemisch-technische Assistentin. Irene führt ihre Apotheke und Hilde, das arme Hascherl (S. 47) begnügte sich mit ihrer Rolle in der Bügelküche des Kinderkrankenhauses Sankt Nikolaus und reiste manchmal nach Lourdes oder Rom, vielleicht auch um Milderung für die Folgeschäden ihrer Hirnhautentzündung zu suchen.

Die Besuche in der Stuttgarter Rückenwiesenstraße bei den Taten waren immer ein Familienereignis. Spaziergänge vorbei an der Reinsburgstraße 85, wo ihr Vater und die vier Schwestern aufgewachsen waren, prägten die Erinnerung der Autorin, die die Mischung von kindlicher Unlust und väterlicher Familienlust wohl schon gespürt hatte.

Nicola Denis sortiert alte Fotos und bemerkt „eine fortschreitende, von Tante zu Tante natürlich unterschiedliche weibliche Selbstneutralisierung“. (S. 70) Die vielen Fotografien erlauben es der Autorin, die Entwicklung der Tanten im Zeitraffer an sich vorüberziehen zu lassen. Beruflich steckten die Tanten oft in weißen „Unisex-kitteln“ immer bereit „perfekt die geschlechtsneutrale Rolle als Fürsorgerinnen“ (S. 74) auszufüllen: „stoffgepanzerte Amazonen“.

Natürlich gab es eine Hierarchie unter den Tanten. Nachdem Tod des Vaters wurde Marianne das Familienoberhaupt. – 1952-1959 waren die Eltern der Autorin in Kolumbien und in Kalifornien und bekamen weiterhin die Unterstützung der vier Tanten aus Stuttgart. Nach der Rückkehr der Eltern nach Deutschland wurden die gemeinsamen Reisen mit den Schwägerinnen wieder aufgenommen. Es folgen weitere biographische Einzelheiten der Schwestern, Mariannes  Erinnerungen an Werner, der aber leider seinen letzten Brief am 16. April 1941 schreibt.

Mit > Die Tanten ist Nicola Denis ein bemerkenswertes literarisches Debüt gelungen. Natürlich bot sich die Konstellation des Tantenquartetts dafür an, aber auch das Talent der Autorin, ihre Beobachtungen in diese Erzählung umzusetzen, gehörte dazu. Vielleicht merkt man auch, das Denis Balzac übersetzt hat, denn man benötigt schon viel literarische Erfahrung, um aus diesen unterschiedlichen Lebensläufen einen gemeinsamen Nenner herauszuarbeiten und so überzeugend in dieser Form zu präsentieren.

Heiner Wittmann

Die Tanten

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Beteiligte Personen

Annette Hauschild

Nicola Denis

Nicola Denis, geboren 1972 in Celle, übersetzt seit vielen Jahren aus dem Französischen, u. a. Honoré de Balzac, Éric Vuillard, Philippe Lançon und Marie-...

Nicola Denis, geboren 1972 in Celle, übersetzt seit vielen Jahren aus dem Französischen, u. a. Honoré de Balzac, Éric Vuillard, Philippe Lançon und Marie-Claire Blais. 2021 erhielt sie für ihr übersetzerisches Werk den Prix lémanique de la traduction sowie 2023 den Eugen Helmlé-Übersetzerpreis. Sie lebt mit ihrer Familie im Westen Frankreichs und hat langjährige familiäre Bezüge nach Stuttgart. »Die Tanten« ist ihr literarisches Debüt. 

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