Lesebericht: Tom Kummer, Unter Strom. Roman

Nina ist in Los Angeles gestartet und landet in Zürich. Es ist eine Rückkehr in ihre Jugendjahre, der damit beginnt, dass ihre Intimfreundin Sarah sie abholt und ihr nicht nur nebenbei gleich von ihren phantastischen beruflichen Erfolgen als Anwältin vorschwärmt. Tom Kummer hat mit Unter Strom  einen mitreißenden Roman vorgelegt, der am besten ohne Pause (in einem Zug) gelesen wird.

Erinnerungen tauchen in ihr auf… damals hat Nina Tom kennengelernt und ist ihm im Herbst 1993 in die USA gefolgt, wohlwissend, dass Sarah sie so gerne zurückbehalten hätte: „Das Reich des Bösen, Baby. Du bist Dir hoffentlich bewusst, auf was für ein Land du dich da einlässt.“ (S. 61) So genau weiß Nina immer noch, ob ihre Entscheidung für Tom richtig war. Sarah will Nina wie vor zwanzig Jahren am liebsten ganz für sich behalten: „Ich möchte einfach nur, dass wir diese Lücke schließen, die sich in unserer Geschichte gebildet hat.“ (S. 35). Ein großes Fest zum Wiedersehen mit Nina will sie geben, ganz so als sei deren Rückreise gar nicht geplant.

Ihre intime Verbindung existiert immer noch, wird von beiden, mehr von Sarah als von Nina, sofort wieder ausschweifend gelebt. Sarah lässt ihre Freundin spüren, dass sie sie vollständig besitzen will, ob Nina frei ist, ihre Entscheidung selber zu treffen, steht gar nicht zur Debatte. Und doch versucht Nina auch aus dieser Verbindung auszubrechen.


Neu eingetroffene Romane testen wir zu Hause oft durchs Vorlesen – so wie Gustave Flaubert seine Manuskripte Freunden zu Hause vorgelesen hat, um zu hören, wie die Sätze rollen. Wenn Sie das mit Tom Kummers Roman > Von schlechten Eltern versuchen, werden Sie merken, dass Sie vor dem Zuklappen des Buches – weil es schon spät ist – schon sehr weit gekommen sind.

Tom Kummer
> Von schlechten Eltern
1. Aufl. 2020, 245 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-608-50428-6


Der Ausflug oder die versuchte Flucht mit Sarahs Motorrad, das rauschende Fest, in das Nina eher nur hineingezogen wird und das ihr mehr als unbehaglich ist, auch das gewisse Erstaunen, das Sarah mit ihr so weitermacht, wie sie damals aufgehört haben: „Erst wenn du dich ganz befreist, können wir uns richtig lieben…“ (S. 105) und sie sagt ihrer Freundin vorher, dass Tom gewiss bald erledigt sein werde.

Sarah scheint nochmal eifersüchtig auf Tom zu sein, ihrer übergreifenden und besitzergreifenden Art spielt nur Nina für sie eine Rolle. Ohne Zweifel ist Sarah eine Egoistin, denn sie denkt trotz gespielter Fürsorge für Nina nur an sich selbst. Und wenn Nina auf ihrer versuchten Flucht sich im Wald auf einem Wurzelhocker wiederfindet und über ihre Lage nachdenkt, dann tut sie das so wie Roquentin in Sartres Der Ekel im Park unter der Kastanie. Aber Nina schafft den Absprung nicht: „Du und Tom, ihr habt euch eingemauert,“ (S. 157) muss sie sich von Sarah anhören lassen.

Das große Fest für Nina ist meisterhaft beschreiben. Und nicht nur weil Sarah sich nur für Nina, sprich sich nur für sich interessiert, verliert sie jede Kontrolle. Die Polizei erscheint.

Tom Kummer, Unter Strom. Roman
1. Auflage 2022, 256 Seiten, Gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-608-50513-9