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Lesebericht: Wilhelm von Humboldt Bildungstrieb und Freiheitsdrang.

Über die Erziehung zur Mündigkeit
28.10.2022
Mit diesem Band von Wilhelm von Humboldt (1767-1835)  Bildungstrieb und Freiheitsdrang. Über die Erziehung zur Mündigkeit setzt Klett-Cotta die Reihe zeitlos-aktueller Werke der Pädagogik und Erziehungsphilosophie aus Anlass des 125-jährigen Jubiläums der Klett-Gruppe (Ernst Klett Verlag) fort. Nach Johann Amos Comenius, Große Didaktik und John Locke, Einige Gedanken über Erziehung erscheint nun eine Sammlung von Texten, die einen umfassenden Einblick in das Gesamtwerk von Wilhelm von Humboldt vor allem zur Bildung des Menschen vermitteln.
Lesebericht: Wilhelm von Humboldt Bildungstrieb und Freiheitsdrang.

Manfred Geier hat für diesen Band, den wiederum Jürgen Overhoff herausgegeben hat, das Vorwort verfasst. Das Ergebnis ist ein beeindruckender Einblick in das Schaffen von Wilhelm von Humboldt zugunsten seines umfassenden Bildungsanspruchs. Mit der wohl durchdachten Auswahl der Texte in diesem Band aus den Briefen Humboldts und seinen Schriften wird zunächst sein „Weg zur Mündigkeit, 1767-1790“ nachgezeichnet. Selbstvergewisserung und Prinzipientreue sind die Stichwörter des zweiten Kapitels „Selbstbildnis als Lebensprinzip, 1791-1802“. Wahrend seines sechsjährigen Aufenthalts in Rom: „Auf den Spuren der Antike. Rom 1802-1808“ hat Humboldt seine Bildungstheorie vervollständigt und sich dabei, ohne es bereits zu ahnen, auf seine Karriere als „Bildungspolitiker. 1808-1810“ vorbereitet.

Zu Wilhelm von Humboldts Lebensprinzipien gehört „autonomes Selbstsein“ (Geier, S. 13), dessen Begründung er im Stoizismus gefunden hatte, und vor allem die Lehren der Aufklärung sowie auch die konsequente Ablehnung staatlicher Bevormundung. Wenn auch Humboldt Anregungen dankbar aufgriff, so gab es doch wie die Begegnung mit seinem Freund Friedrich Heinrich Jacobi in Pempelfort Grenzen, die Geiger so zitiert: „Die Immanenz der Welt kann nicht mit der Transzendenz eines göttlichen Daseins kurzgeschlossen werden.“ (S. 21) Die Reise ins revolutionäre Paris, wo er am 3.August 1789 eintrifft, der Tag, an dem das Feudalsystem abgeschafft wurde, führt ihn zu dem Text Über Religion und Gesetzgebung, in dem er staatliche Autorität kritisiert, die nicht den Menschen als seinen eignen Zweck respektiere. Geiger nennt Humboldt nach Karl Mannheim einen „freischwebenden Intellektuellen“ auf der Such nach dem, was den Menschen antreibt.

Als Humboldt den Absagebrief an König Friedrich Wilhelm II. verfasst, der ihn 1809 zum Chef des preußischen Erziehungswesen ernennen will, denkt er wohl daran, dass er selbst nie in einer Schule war.
Es hilft kein Sträuben, eine Kabinettsorder des Königs folgt und Humboldt hat die Stelle: Aufklärung, Lernen des Lernens, kein äußerer Zwang, Ausbau der universitären Bildung bleiben seine Stichwörter, mit denen er Erfolg hat. Eine nur zweijährige Beschäftigung, aber er ordnet das preußische Unterrichtswesen ganz neu.

Erstaunlich, wie Humboldt seine Selbstfindung dokumentiert und ganz auf die eigene Individualität und die der anderen setzt: „die höchste Moral, die konsequenteste Theorie des Naturrechts“. (S. 71) Es ist dem Herausgeber dieses Bandes gelungen, Wilhelm von Humboldts Bildungstheorie durch eine kenntnisreiche und kluge Textauswahl auch gerade in ihrer Entwicklung wie in einem Essay, der seinen Gegenstand von verschiedenen Seiten beleuchtet, nachvollziehbar werden zu lassen. So wird 1790 in Über Religion und Gesetzgebung schon über den Gesetzgeber und seine Mittel berichtet, die er nutzt, um die Bildung der Bürger zu fördern, dass diese zweckmäßig seien, wenn „sie die innere Entwicklung der Fähigkeiten und Neigungen begünstigen“, ein Gedanke, der hier  auf das Innere der Seele zielt, eine Veränderung dort bewirkt, aber nie „hervorgebracht werden“ kann. Ein Verbiegen oder eine Veränderung der Individuen ist damit ausgeschlossen: „Denn wahre Tugend ist unabhängig von aller und verträglich mit befohlner, und auf Autorität geglaubter Religion.“ (S. 74) Wir könnten es hier mit dem Lesebericht bewenden lassen, denn präziser kann die Individualität des Lernenden, die es zu schützen gilt, kaum ausgedrückt werden.

Am 16. August 1791 schreibt Humboldt an Georg Forster und kommt wieder auf die Bildung der Individuen zurück. Das erste Gesetz der Moral laute: „Bilde dich selbst,“ und das zweite „Wirke auf andere durch das, was Du bist…“.  (S. 86) Von diesem Maximen möchte Humboldt sich nicht trennen, hat er doch hier auch festgelegt, welches Lehrerbild ihm vorschwebt.

Der Essaycharakter der Auswahl der vorliegenden Texte erweist sich wiederholt, wenn die Auswahl zum zweiten Mal gelesen wird, weil dann erst manche Aussagen erst wirklich ihren verdienten Stellenwert erhalten, so z. B. der Brie fan Friedrich Gentz im Winter 1791: „Wir rühmen uns mehr der menschlichen Erfindungen als der menschlichen Kräfte…“ (S. 91 f.) Was im Menschen zusammengehört wie Vernunft und Sinnlichkeit ist der Kern von Humboldts Menschenbild (vgl. ebd.), woraus man auch die Bedeutung der Ästhetik für die Bildung ableiten darf. In den  Ideen über Staatsverfassung durch die neue französische Constitution veranlasst: es geht hier um Wirkung und Bildung, Kraft, sagt Humboldt, und wiederum „Selbstthätigkeit" und verbindet sie sogleich mit der Freiheit und die Einbettung in die Geschichte als historischen Prozess. Humboldt sagt: „Dass kein einzelner Zustand der Menschen und Dinge Aufmerksamkeit verdient an sich, sondern nur im Zusammenhang mit dem vorhergehenden und folgenden Dasein….“ (S. 96) Diese Bemerkung, so wie sie hier gemeint ist, verweist nicht auf Resultate, sondern auf die (individuellen) Kräfte, die hier am Werk sind. Der Leser spürt hier, wie der Herausgeber Humboldt dazu bringt, hier sein Menschenbild vorzuführen.

Am 1. Juni 1792 nennt Humboldt in seinem Brief an Georg Forster wieder die „innere Kraft des Menschen“ (S. 98) als den einzigen Stoff, dem alles unterzuordnen sei. Man habe sich angewöhnt nur auf Resultate zu achten, er vermisse aber die Aufmerksamkeit auf die „Kraft und die Energie der Menschen“, durch die Resultate von selber kommen und die Aufklärung komme mit dazu (vgl. S. 99). Nichts anderes steht in den Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmn. 1792, wenn Humboldt im II. Abschnitt „Der Endzweck des Menschen“ „die höchste und proportionirlichste Bindung seiner Kräfte zu einem Ganzen“ (S. 106) als eben seinen Zweck beschreibt. Seine Bedingung ist die Freiheit und „Mannigfaltig der Situationen“ (ebd.) als Folge der eben dieser Freiheit wieder ein weiterer Baustein der Anthropologie Hmboldts. Sartre nannte den Menschen in seinen Vorwort zu seiner Flaubert-Studie „un universel singulier“, ein „einzelnes Allgemeines“. Im Kapitel VI. „Über öffentliche Staatserziehung“ steht: Erziehung, die den Menschen bildet, benötigt den Saat nicht: „Bei freien Menschen entsteht Nacheiferung…“, (S.116) womit wir wieder beim Lehrerbild sind. Wie gesagt, was man zunächst überliest, wird in diesem Essayband durch weitere Bausteine in Erinnerung gerufen und so zurechtgerückt: „Öffentliche Erziehung scheint mir daher ganz ausserhalb der Schranken zu liegen, in welchen der Staat seine Wirksamkeit halten muss […]. (S. 117)

In Theorie der Bildung des Menschen – Bruchstück 1794/95 steht: Was der Mensch nothwendig braucht, ist bloss ein Gegenstand, der die Wechselwirkung seiner Empfänglichkeit mit seiner Selbstthätigkeit möglich mache.“ (S. 134) In Das achtzehnte Jahrhundert. 1797 steht eine Klage über viele Perioden unseres Lebens, die uns durch Hindernissse niederdrücken und die Ausübung unserer Kräfte “ in ihrer vollen und natürlichen Energie“ (S. 155) behindern. Gemeint ist hier auch der freie Wille und zugleich auch eine Selbstgenügsamkeit: Seine Menschenkenntnis ist für Humboldt der Grund, „warum ich nie etwas hervorbringen werde, was der Mühe wert sey, mich zu überleben.“ (S. 166)

Humboldts zweijährige Tätigkeit als Bildungspolitiker ist deshalb so interessant, weil er alle Vorgänge, die er um sich herum beobachtet, auch in seinen Briefen an seinem Menschenbild misst. Aber er wird auch deutlich. Unterrichtsbesuche: „Ich komme, ohne daß man es weiß.“ (S. 221) Das ist für ihn amüsanter als Akten lesen. Und dann der „Königsberger Schulplan“, gefolgt vom litauischen Schulplan“, beide klüger als die heutigen Kompetenzkataloge, deren Vermittlung und Prüfung den Lehrer immer unentbehrlicher machen und so gar nichts mit der Art und Weise zu tun, wie die Lehrer sich in Humboldts Lehrplänen überflüssig machen sollen. (vgl S. 237)

Wie nennt Humboldt staatliche Bildung? Das „Verbesserungsgeschäft der Nation“, das alle Seiten berücksichtigen muss, die Jugend und die Erwachsenen. Die Schulen haben den Zögling auf die Universität vorzubereiten, so dass dieser „physisch, sittlich und intellektuell der Freiheit und Selbstthätigkeit überlassen werden kann…“ (S. 283). „Ein so vorbereitetes Gemüth nun ergreift die Wissenschaft von selbst….“ (S. 283)

Heiner Wittmann