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Nachgefragt und Lesebericht: Luise Reddemann Die Welt als unsicherer Ort. Psychotherapeutisches Handeln in Krisenzeiten

Aufgezeichnet von Heiner Wittmann
26.5.2021

Dieses Buch von Luise Reddemann »Die Welt als unsicherer Ort. Psychotherapeutisches Handeln in Krisenzeiten« ist nicht nur für die Covid-Problematik gedacht, sondern auch für ähnliche kollektive Erfahrungen, denen wir jetzt und in der Zukunft nicht entgehen können.

Die Covid-19-Pandemie kann gravierende Reaktionen, wie z. B. Ängste und Depressionen, auslösen. Besonders gefährdet sind Menschen mit Traumafolgeerkrankungen: Sie geraten durch die Pandemie in neue Ausnahmesituationen und werden massiv vom Verlust ihrer oft mühsam erarbeiteten Ressourcen bedroht. Mit ihren Bedürfnissen wird deutlich, dass die Psychotherapie  in diesen Zeiten immer häufiger und zum Teil anderes als das erlernte „Handwerkszeug“ benötigt. In diesem Buch wird der Blick der »Existentiellen Psychotherapie« mit den Grundsätzen und Tools der  > Psychodynamischen Imaginativen Traumatherapie  PITT der Autorin verknüpft. Zudem werden hier auch Erkenntnisse aus Soziologie und Geschichte wie auch der Literatur berücksichtigt, die andeuten, was wir als Gesellschaft aus Krisenzeiten auch mit den Ergebnissen diesen Disziplinen lernen können.

Nachgefragt und Lesebericht: Luise Reddemann Die Welt als unsicherer Ort. Psychotherapeutisches Handeln in Krisenzeiten

Nachgefragt: Luise Reddemann, Die Welt als unsicherer Ort

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Mit diesem Buch ist > Luise Reddemann ein ganz besonders nützliches Handbuch zum Verständnis der gerade jetzt  so heftig  auftretenden psychologischen Probleme, die PatientInnen in dieser Pandemie-Situation in wahre Grenzsituationen versetzen, gelungen. In diesem Buch nutzt die Autorin ihre 30-jährige Erfahrung als Nervenärztin, Psychoanalytikerin und Fachärztin für Psychotherapeutische Medizin. Ihr Buch schärft unser Bewusstsein für die mit der Pandemie verbundenen Gefahren und ordnet die gerade so aktuell in den Medien diskutierten Szenarien z. B. mit der  von allen verständlicherweise gewünschten Lockerung ihrem Stellenwert gemäß richtig ein. Zu wenig Impfstoff, zu wenig Tests, der Sinn oder Unsinn von Ausgangsbeschränkungen stehen im Vordergrund der Debatte und diese Themen übersehen, dass Deutschland relativ gut durch die Krise gesteuert worden ist und dass die wirklichen Probleme eigentlich ganz woanders gelagert sind, ohne dass die Medien diese wirklich in den Blick nehmen,.

Luise Reddemann erinnert zu Recht daran, dass im Verlauf der Pandemie die seelische Gesundheit zunächst auch von der Bundesärztekammer noch im August 2020 gar nicht beachtet wurde. (Vgl. S. 13 f.) Die Erkenntnisse der Gefahren, denen nicht nur Patienten mit psychiatrischen Vorerkrankungen nun erneut ausgesetzt sind und auch die Bedingungen für psychiatrische Neuerkrankungen seien, so die Autorin, erst viel zu spät erkannt und bewertet worden.

Die Existentielle Psychotherapie stellt die Autorin als Grundlage ihres Buches vor und bezieht sich auf Autoren wie Irvin Yalom, Viktor Frankl wie auch Edmund Husserl; deren Gedanken und existentielle Fragen nach Tod, Freiheit, Isolation und Sinn ergänzt sie um die Verbundenheit als Mitgefühl und entwickelt daraus eine Care Ethik. (Vgl. S. 19 f.)

Eines der grundsätzlichen Probleme, die in der Psychotherapie mit unsichereren Bindungserfahrungen zum Vorschein kommen, wird in der aktuellen Pandemie mit ihrem Lockdown, der Isolation und mangelnden Kontakten ganz besonders verschärft. Im erwachsenen Ich können jetzt unverarbeitete Ängste und damit verbundene psychische Probleme zu neuen traumatischen Erlebnissen führen, deren Behandlung Luise Reddemann in diesem Buch vorstellen möchte.

„Wir werden mit unserer Unsicherheit, Verletzlichkeit und Sterblichkeit konfrontiert auf eine Art und Weise, die man brutal nennen könnte,“ erklärt sie in ihrem ersten Kapitel, in dem sie soziologische und historische Blick (vgl. S. 32-37 !) auf die Krise vorstellt. Es geht um eine neue, bis her völlig unvermutete Art eines Bedrohungserlebnis, das nicht nur die Angst vor einer Ansteckungen evoziert, sondern auch die Erkrankung an Covid mit allen ihren psychologischen Folgen in den Blick nimmt.

Reddemanns These lautet: „Schulenspezifisches Handeln in der Psychotherapie scheint mir im Kontext der hier angesprochenen Themen (sprich in der aktuellen Pandemie und in künftigen Pandemien, H.W.) nicht ausreichend zu sein.“ (S. 42) Die Behandlung der bereits eingetretenen Traumatisierungen erfordert eine rapide Anpassung von Behandlungsmethoden an diese neuen Herausforderungen. Dazu gehört u. a. auch das Überdenken des Abstinenzgebots (vgl. S. 43 f.) hin zu einer „mitfühlenden Begegnung“. Der Autor dieser Zeilen erinnert sich natürlich daran, wie Jean-Paul Sartre im Rahmen seiner existentiellen Psychoanalyse den Begriff der Empathie u.a. im Vorwort seiner 2801-Seiten Studie zu Gustave Flaubert einführt. Stressreduktion (S. 45-49) ist ein weiteres Stichwort, das daran erinnert, das seine Ursprünge auch gerade im Mangel von Empathie und Mitgefühl liegen hin bis zum Mobbing, das ganz aktiv vermehrt Stress auslöst.

Luise Reddemann bezieht sich auf ihr Buch Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie – PITT, das sich mittlerweile mit der 11. Auflage zu einem Standardwerk entwickelt hat, und weist auf ihren Grundsatz hin: „Es empfiehlt sich, am Beginn einer therapeutischen Begleitung sehr genau nach der Stabilität des erwachsenen Ichs zu schauen und diese zu fördern.“ Der Satz steht auch im Original in kursiv und enthält ein ganzes Programm, dass die PITT einschließt, die Bedeutung des inneren Wesens, Trost und Mitgefühl wie auch die Vorstellungskraft auch mit Bildern (vgl. dazu S. 75) in den Blick nimmt. Selbstwirksamkeit erfahren, Aufrichtigkeit und Gegenübertragung wie das Erlernen der Selbstberuhigungsfähigkeit sind weitere Stichworte dieses Kapitels. Der Abschnitt „Selbstermächtigung und Förderung von Eigenmacht( S. 60 f.) erinnert an den Autodidakten in der Bibliothek von Bouville der Roquentin erklärt: „Das Leben hat den Sinn, den Sie bereit sind, ihm zu geben.“ (Sartre, La nausée, 1938)

Das Kapitel „Akute Belastungsreaktionen bei Menschen mit Traumafolgestörungen“ (S. 64-78) stellt das ganze Inventarium vor, das Lise Reddemann mit ihrer so reichhaltigen Berufserfahrung sich erarbeitet hat: So verstörend die Gefahren, die auf die Patienten lauern, auch sein können, so macht dieses Kapitel doch auch Mut, sich den Herausforderungen durch die mit der Pandemie zusätzlich verbundenen Gefahren zu stellen. Statt Alleingänge auf Kosten aller, ist jetzt Solidarität mit allen angesagt, davor fürchtet sich das Virus am meisten: „Diese Geschichte geht uns alle an,“ sagt Rambert, Camus, Die Pest, S. 237, und er fügt hinzu, man könne nicht alleine glücklich sein.

So wie ich Schülern geraten habe, sich ein Lerntagebuch anzulegen, so schlägt Luise Reddemann ihren PatientInnen ein Freude- oder Dankbarkeitsbuch vor, in dem sie aufmunternde oder beglückende Erlebnisse festhalten und sich in ihrer Tragweite für sich bewusst machen. „Bilder, Geschichten und Metaphern“ sollten, so Reddemann, viel bewusster wahrgenommen werden. Dabei erinnert sich der Autor dieser Zeilen an den Aufsatz von Auguste Flach, „Über symbolische Schemata in produktiven Denkprozessen“, im: Archiv für die gesamte Psychologie 1925, Band LII, S. 369-440, dessen Interpretation und Erweiterung Jean-Paul Sartre zum Inhalt seiner Examensarbeit an der École norale supérieure gemacht hat und die seine ganzes weiteres Werk bis hin zu seinen Studien über Tintoretto beeinflusst hat.

Es folgt im Buch von Luise Reddemann ein „Vorschlag für eine überwiegend ressourcenorientierte Kriseneintervention im Rahmen von 5-10 Sitzungen nach PITT“. (S. 78-85)

Camus‘ Definition des Absurden, das entsteht, wenn der Mensch der Welt Fragen stellt und diese vernunftwidrig schweigt, ist als Zitat über dem Kapitel „Die existentielle Dimension der Pandemie-Erfahrung“ ist perfekt platziert. Und sie zitiert einen Schlüsselsatz von Albert Camus, der für sein Gesamtwerk stehen kann: „Das Kunstwerk entsteht aus dem Verzicht des Verstandes, das Konkrete zu begründen. Es bezeichnet den Triumph des Sinnlichen,“ (Camus, Der Mythos vom Sisyphos, 1959, S: 102) (S. 112) mit dem sie andeutet, dass auch die Literatur auch wertvolle Beiträge zur Psychologie leisten kann: Vgl. H. Wittmann, Albert Camus, Kunst und Moral, Reihe Dialogues/Dialoghi, Literatur und Kunst Italiens und Frankreich, hrsg. v. Dirk Hoeges, Band 6, Frankfurt/M. 2002.

Mehrere Vignetten illustrieren das anfangs zitierte Einfühlungsungsvermögen und verbunden sie mit der Vermittlung des Freiheitsgefühls (S: 129 f.9 und der „Verbundenheit als existentielle Herausforderung und Chance“ (S, 131-139), wozu ich jetzt gerne noch ein Kapitel dazuschreiben würde, sozusagen als Bestätigung des von Luise Reddemann Gesagten, wie denn online geführte Gespräche zum Gewinn für alle Teilnehmer gestaltet werden könnten: > Mittwoch um 19 Uhr: Stefan Bollmann, Der Atem der Welt. Johann Wolfgang Goethe und die Erfahrung der Natur – 15. April 2021 oder > Soirée littéraire II: Rétif de la Bretonne – dimanche, 14 février 2021 – 19 h – mit Laurent Loty – 11. Februar 2021 – ohne die Pandemie wären diese Veranstaltungen so in dieser Form gar nicht zustandegekommen.

Die Lektüre des Buches »Die Welt als unsicherer Ort. Psychotherapeutisches Handeln in Krisenzeiten« macht Mut. Und der Titel verrät ein Programm, das nicht gleich auf den ersten Blick erkennbar ist, aber Ihnen nach der Lektüre glasklar vor Augen stehen wird: Mit Empathie und Verbundenheit und zugleich mit ihrer beeindruckenden Erfahrung ihrer 30-jährigen Tätigkeit gelingt es Luise Reddemann, ihnen zu zeigen, wie man die Welt ein wenig sicherer gestalten kann.

Weitere Informationen zu Luise Reddemann finden Sie unter: www.luise-reddemann.de.

Heiner Wittmann

Die Welt als unsicherer Ort

Psychotherapeutisches Handeln in Krisenzeiten (Corona-Praxisbuch)

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